Das finstere Tal - Willmann, T: Das finstere Tal
die Zuhörer wie in Hypnose zu bannen und sie oft erst wie aus einem Traum erwachend bemerken zu lassen, wie sehr sich über die Dauer der Erzählungen draußen die Landschaft, der Himmel, der Stand der Sonne verändert hatten. Und vermochten Holdens Geschichten einmal nicht mehr zu fesseln, verlegte er sich auf Zauberkunststücke. Karten und Münzen tauchten an den unerwartetsten Orten auf, schienen aus Nase und Ohren des Jungen zu purzeln oder im Gewand der Reisenden zu erscheinen und verschwanden kurz darauf ebenso überraschend wieder bei der kleinsten Berührung durch Holdens Hände.
Abends aber, wenn man in einem mit weiterer Gesellschaft gefüllten Hotel oder Gasthaus Station machte, wurde Holden zu einem Impresario seiner selbst – zu einem Unterhalter mit großen Gesten, keinen Widerspruch duldender Stimme, scharf gesetzten Pointen, der den anderen nach Belieben das Wort erteilen und entziehen konnte, der in der Hand hatte, worauf am Tisch sich das Interesse lenkte, und sicherstellte, dass es zuerst und zuletzt ihm selbst galt. SeineErzählungen waren voll scharfsinniger Beobachtungen, haarsträubender Wendungen, wunderbarer Pointen, sie waren gelegentlich frivol, ohne schlüpfrig zu sein, erzeugten den wohligen Schauer des Gewagten, des beinahe Verbotenen. Und wo die anderen Gäste selbst das Gespräch bestritten, da verstand Holden es meisterhaft, ihnen interessante Details ihrer Erzählung zu entlocken, auf die sie sonst vergessen hätten, sie umständliche oder unnütze Passagen abkürzen zu lassen, oder, wo er den Sprecher, dessen Art oder Ansichten nicht mochte, ihn zielsicher mit zwei, drei Bemerkungen zum großen Amüsement der anderen geistreich bloßzustellen. Diese Tischrunden waren wie kleine, lebendige Kunstwerke, die der Richter formte, lenkte, stutzte – kleine Aufführungen, in denen alle Darsteller und Publikum zugleich waren und Holden der Regisseur.
Die Frau aber wurde nie das Gefühl los, dass diese flüchtigen Inszenierungen nicht dem Vergnügen der Anwesenden dienten, sondern in Wahrheit der Befriedigung obskurer Launen Holdens. Holden war ein begnadeter Argumentator und Rhetoriker, nicht ein Mal erlebten die Deutsche und ihr Sohn, dass er die Richtigkeit einer anderen Meinung als der seinen hätte anerkennen müssen. Es bereitete ihm merklich diebische Freude, gegnerische Positionen zu unterminieren, zu durchlöchern und schließlich einstürzen zu lassen. Besonders wenn es ihm – und das war nicht selten – gelang, den Vertreter der Gegenmeinung durch geschickt gelegte Fallen die entscheidenden Schritte der Demontagearbeit selbst vornehmen zu lassen. Je tiefer, lebensbestimmender die Überzeugung beim anderen zu sitzen schien, je mehr der darauf all seine Hoffnungen gebaut hatte, umso mehr hatte Holden Genuss daran, sie ihm zu nehmen – wogegen Holdens Reisegefährten ihn mehr als einmal am einen Abend jene, am anderen Abend in einer anderen Stadt genau die entgegengesetzteMeinung vertreten hörten, und jedes Mal mit zwingender Logik und als geschehe es aus vollster Überzeugung. Oft aber schien zum Einsturz der gegnerischen Position nur noch der letzte, offensichtliche Schritt in der Argumentation zu fehlen – und Holden verzichtete auf ihn, erklärte den Disput für unentscheidbar. Mancher wirkte in dieser Situation, als habe er bereits einen Angelhaken geschluckt, warte aber aus einer Laune des Fischers heraus vergeblich darauf, dass sich nun auch die Leine spanne. Und da war ein Blitzen in Holdens schwarzen Augen, ein Kräuseln um seine Mundwinkel wie von kaum zurückhaltbarem Lachen, die verrieten, dass es ihm noch mehr als ein offener Sieg insgeheime Freude bereitete, zu wissen, dass nun der Stachel saß und bohrte.
Da war etwa der reisende Geschäftsmann, der zu fortgeschrittener Stunde und nach mehreren Gläsern Bier von seiner neuen Geschäftsidee erzählte, die umzusetzen er mit all seinen Ersparnissen auf dem Weg nach Westen war. Er musste minutenlang Fragen beantworten, die Holden unter dem Tarnmantel begeisterter Neugier stellte, bei denen aber einem in Geschäftsdingen beschlagenen Zuhörer bald klar werden musste, dass sie letztlich nur einen Schluss zulassen konnten: nämlich, dass die Kalkulation des Geschäftsmannes auf tönernen Füßen stand und ihn im Westen nichts erwartete als der sichere Ruin. Oder da war eine ältere, mächtig herausgeputzte Dame, die im jüngst beendeten Bürgerkrieg Mann und Sohn verloren hatte. Zunächst untröstlich, hatte sie ein
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