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Das finstere Tal - Willmann, T: Das finstere Tal

Das finstere Tal - Willmann, T: Das finstere Tal

Titel: Das finstere Tal - Willmann, T: Das finstere Tal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Willmann
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gewiss auslösen mussten.
    Hätte sie einen Moment länger gewartet, bevor sie sich abwandte, oder hätte sie noch einmal zurückgeschaut, bevor sie ins Haus stürmte, dann hätte sie möglicherweise bemerkt, dass Greider sie ziehen ließ mit einer Miene, die vielleicht etwas Erstaunen zeigte über ihren plötzlichen Ausbruch. Die aber nicht die war von einem, der nun mehr Fragen hatte als zuvor.

XII
    Als an diesem Abend alle zu Bett gegangen waren, schob Greider den Riegel vor die Tür seiner Kammer und dämpfte das Licht zu einem schwachen Schein. Dann beugte er sich unter den Tisch, wo sein Gepäck gestapelt war. Er musste Koffer und Reisetasche zur Seite schieben und das Futteralmit seinem Vorrat an Leinwand hervorziehen und zur Seite legen, um an die zweite lederne Röhre zu gelangen, die dort ganz hinten gelagert war. Er holte sie hervor und verräumte das übrige Gepäck wieder an seinem Platz. Dieses Futteral war merklich schwerer als das mit dem Malgrund. Greider erhob sich damit und setzte sich auf den Stuhl, den er neben die Lampe stellte. Dann löste er behutsam die Riemen, die den Deckel des Behältnisses verschlossen hielten.
    Sobald der Deckel geöffnet war, drang ein Geruch von Öl in den Raum. Es war nicht der gleiche Geruch, wie er von dem Lösungsmittel der Farben ausging, die vor einigen Tagen auf der verhüllten Leinwand und der benutzten Palette getrocknet waren; er hatte eine schärfere Note, einen hart metallischen Ton.
    Greider griff in die Röhre und zog vorsichtig etwas hervor. Zunächst waren nur baumwollene Tücher zu erkennen, die offenbar einen Gegenstand umhüllen und zugleich den leeren Raum in dem Futteral ausstopfen sollten. Der Gegenstand war fast so lang wie die Lederröhre selbst, aber deutlich schlanker, und starr. Greider schlug die Tücher zurück, ließ sie auf den Boden gleiten. Was er schließlich in den Händen hielt, worüber er halb ehrfurchtsvoll, halb zärtlich strich und was er mit einem unergründbaren Ausdruck betrachtete, das hatte ein vierfaches Glänzen. Dunkel reflektierte der schwarze Kolben den Lampenschein, matt schimmerte der grau metallene Lauf, wie Bronze gloste der Verschluss, und silbrig hell leuchteten die Beschläge. Es war ein Gewehr, das Greider da umfasste.
    Regungslos saß er da und schaute auf das Frauenporträt an der Wand. Er schien tief versunken.
    Draußen war ein Vollmond aufgegangen, und sein kaltes Licht brachte die Kristalle der weiß bedeckten Flächen vor dem Fenster zum Glitzern.
    Das gemalte Gesicht. Der Geruch, das Gewicht der unbenutzten Waffe. Das Gleißen des Mondes auf dem Schnee. Das alles war schwacher Widerhall von etwas, das ein halbes Menschenleben und einen Ozean entfernt war von diesem Tal.
    Das Gesicht. Der Geruch, das Gewicht. Das Gleißen.
    Das Gleißen.
    Der Junge musste seine Augen zusammenkneifen. Die Mittagssonne brach sich zu tausendfachen Dolchen aus Licht, die mit schmerzhafter Helle in die Pupillen fuhren – an dieser Stelle, wo der große Fluss breit war und höchstens knietief und wo die Kiesel seines Bettes als winzige Inseln aus seinem zu unzähligen Rinnsalen aufgefächerten Lauf ragten.
    Das Wasser war eisig an seinen Füßen, die aus den hochgekrempelten Leinenhosen hervorschauten, aber das war ihm gerade recht angesichts der brütenden Hitze des Tages. Und angesichts des Wissens, dass es jetzt lange dauern würde, bis man wieder einem solch frischen, kühlen Wasser begegnete. Er tauchte seinen breitkrempigen Hut in eine der Kuhlen, wo das Wasser etwas tiefer floss, füllte ihn, nahm ein paar kräftige Schlucke daraus und goss sich dann den Rest über den Kopf, was ihn prusten und sein Baumwollhemd durchnässt am Körper kleben ließ. Er wandte sich um, zu seiner Mutter, die am Ufer geblieben war, in der Nähe der Postkutsche, und winkte ihr zu. Sie winkte zurück: eine beiderseitige Geste, dass er mit seinen dreizehn Jahren alt genug war, ein Stück weit eigene Wege zu gehen, sie sich aber noch ein wenig Sorge machen durfte um ihn.
    Noch immer die Augen zu Schlitzen kneifend, blickte der Junge sich um: Nur noch eine Silhouette waren die fernen Berge, aus denen der Fluss entsprang, und von den Städten im Osten dahinter war hier, wo alles Landschaft war, nichteinmal eine Ahnung geblieben. Gegen Westen – wohin ihre Reise führte – waren nur noch selten Bäume auszumachen, und auch das Grasland wurde spärlicher. Eine halbe Tagesreise später würde die sandige Ödnis beginnen.
    In der Mitte des

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