Das finstere Tal - Willmann, T: Das finstere Tal
Flusses hatte sich auf einer Kieselbank angeschwemmtes Treibholz und Gestrüpp zu einer kleinen Insel aus totem Dickicht verhakt. Auf den verdörrten Zweigen saß ein Schwarm von Vögeln. Ab und zu flog einer auf, stieß in den vorbeifließenden Strom hinab und tauchte mit einem in der Sonne schillernden Fisch wieder auf.
Der Junge beobachtete fasziniert dieses Schauspiel. Eben hatte wieder einer der Vögel Beute gemacht und auf einem der Äste Platz genommen, um diese zu verschlingen. Da ließ ein gewaltiges Krachen den Jungen erschreckt zusammenfahren, seinen Atem verschlucken, und das Tier löste sich im selben Augenblick in eine Explosion von Federn und rotem Sprühnebel auf, bevor sein kopfloser Rumpf ins Wasser stürzte und daneben wie eine zynische Pointe der Fisch herabklatschte. Gellend kreischend stob der übrige Schwarm auf und floh mit knatterndem Flügelschlag ans gegenüberliegende Ufer.
Hinter dem Jungen ertönte ein entzücktes Lachen. Er drehte sich mit entgeistertem Blick um.
Dort saß der dicke Mann auf einem ausgebleichten, angeschwemmten Baumstamm, hielt mit der rechten Hand ein auf seinem Bein ruhendes Gewehr, dessen rauchender Lauf schnurstracks in den Himmel zielte, und schlug sich mit der Linken fröhlich auf den Schenkel. Seine Glatze glänzte im Mittagslicht, aber sonst schluckte seine ganz in Schwarz gewandete, enorme Gestalt alle Sonnenstrahlen.
»Did you see that?« rief er dem Jungen lachend zu, und in einem etwas fremd klingenden Deutsch: »Der Fisch schwamm fort!«
Der Junge rief ihm eine bejahende, aber keineswegs ähnlich amüsierte Antwort zu und watete zu der Stelle, wo die Überreste des Vogels trieben. Halb angewidert, halb fasziniert spähte er aus ein paar Schritt Entfernung auf den blutigen Klumpen aus Fleisch und Federn, der vor wenigen Augenblicken noch ein lebendiges Wesen war. Eine rote Wolke breitete sich im Wasser aus und ließ schlierige Ausläufer auf die Beine des Jungen zutreiben, der sich beeilte, aus ihrer Reichweite zu gelangen.
Wieder ertönte ein Rufen vom Ufer: »Komm her! Ich zeige dir etwas!« Der schwarzgewandete dicke Mann winkte ihn mit ausholender Geste zu sich, deutete auf sein Gewehr, wies ihm den freien Platz auf dem Stamm neben sich. Der Junge blickte noch einmal zurück auf den zerfetzten Vogel – und stapfte dann auf dessen wohlgelaunten Mörder zu.
Die Reise hatte für den Jungen gerade gedroht langweilig zu werden, als der seltsame Mann auftauchte. Anfangs hatte dem Jungen noch die schiere Neuigkeit des Reisens die Zeit kurz gemacht; da war er voller Aufregung gewesen allein ob der Tatsache, dass die Stadt, in der er sein ganzes bisheriges Leben zubrachte, ein Ende kannte und jenseits von ihr sich eine ganze, unerforschte Welt öffnete. Da klebte er geradezu am Kutschfenster und konnte kaum aufhören zu staunen über die sich entrollende, immer frische Folge von Feldern, Wäldern, Wasserläufen, Seen und dicht gesäten Ansiedlungen, Städtchen und Städten. Aber je weiter sie die einstige Heimat hinter sich ließen, desto abgenutzter wurde nicht nur dieser Reiz des Neuen, sondern umso monotoner auch die Landschaft. Und langsam gewann der Überdruss Oberhand, Tag um Tag, Stunde um Stunde in dieser Kutsche zu verbringen: einem Gefährt, dessen fadenscheinig gepolsterte Holzbänke einem durch die harte Federung ebenso beharrlich wieunregelmäßig gegen Gesäß und Rücken schlugen. Einem Gefährt, dessen kleine Kabine man mit mürrischen Geschäftsmännern, unablässig schnatternden alten Damen oder in die Geheimnisse der Körperpflege nicht eingeweihten Streunern teilen musste und die schnell stickig wurde – sich aber mit dem von den Pferdehufen aufgewirbelten Staub füllte, wollte man durch Öffnen der zugigen Fenster für ein wenig Belüftung sorgen.
Und auch die Abende waren dem Jungen bald zuwider: Da tauschte man das Rattern und Schütteln der schweißstinkenden Kutsche gegen die Bänke und Betten der Hotels, Saloons, Absteigen, gegen fragwürdige Kost in Mief und Lärm, gegen das Pieken von Flöhen in durchgelegenen Matratzen.
Einer dieser Abende fand den Jungen und seine Mutter fast allein in der dämmrigen Wirtsstube der Kaschemme eines kleinen Orts. Ihr alleiniger Mitreisender auf dieser Kutschetappe war bereits im Hinterzimmer zu Bett gegangen. Die Frau und ihr Sohn saßen am einzigen Ecktisch unter der einzigen entzündeten Lampe und löffelten die letzten Bissen ihres Abendessens fein säuberlich aus – was nichts über
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