Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das finstere Tal - Willmann, T: Das finstere Tal

Das finstere Tal - Willmann, T: Das finstere Tal

Titel: Das finstere Tal - Willmann, T: Das finstere Tal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Willmann
Vom Netzwerk:
dessen Geschmack und alles über ihren Hunger sagte. Sie waren gerade dabei, ihr Besteck zur Seite zu legen, da wankte der Wirt zu ihnen herüber, der sich in Ermangelung sonstiger Gäste den ganzen Abend über selbst großzügig eingeschenkt hatte. Die Frau glaubte, er wolle das Geschirr abräumen, und schob ihm schon die Schüsseln entgegen, doch er ließ sich schnaufend neben sie auf die Bank plumpsen. Er war ein aufgedunsener Mann von schwer bestimmbarem Alter – der ungepflegte Bart, die grobporige, ädrige Haut mochten ihm täuschende Jahre aufbürden –, und es war nicht nur der Fusel der letzten Stunden, nach dem er stank.
    Ob es denn geschmeckt habe, erkundigte er sich mit schwerer Zunge. Die Frau antwortete mit einem unverbindlichenLaut – denn solch eine Lügnerin, wie pure Höflichkeit sie hier verlangt hätte, war sie dann doch nicht. Er habe nämlich selbst gekocht, lallte der Wirt und ließ sich sein Beifall heischendes Grinsen auch vom Ausbleiben einer Anerkennung seiner Künste nicht verderben. Viel schien er eh nicht zu geben auf die Reaktionen der Frau; man merkte ihm an, dass er sich seinen Text schon länger zurechtgelegt hatte und ihn nun unbeirrt aufsagen wollte. Freilich, verkündete er als Nächstes, müsse er selbst eingestehen, dass sein Eintopf nicht das Leckerste hier in der Stube sei – und dabei rückte er unbeholfen näher an die Frau, bis sich ihre Beine berührten. Die Frau rutschte ohne Hast ein Stück weiter in die Ecke, um den ursprünglichen Abstand wiederzuerlangen. Das Grinsen des Mannes war breiter geworden und anzüglich, doch die Frau begegnete ihm nur mit einem distanzierenden Lächeln und meinte, dass es doch an der Zeit sei, sich zum Schlafen zurückzuziehen. Sie stupste ihren Jungen an, der ihr an der Stirnseite des Tisches den Ausweg versperrte, und wollte sich gerade erheben. Da legte der Mann seine feiste Pranke auf ihre Hand. Sie solle doch nicht so ungesellig sein – ein gemeinsames Glas könne sie ihm nicht verwehren. Und sein stierer Blick unternahm einen gründlich misslingenden Versuch, freundlich anziehend zu wirken. Nein, man müsse morgen früh wieder weiterreisen, lehnte die Frau bestimmt ab. Doch als sie ihre Hand unter der seinen hervorziehen wollte, wurde sein Griff härter.
    Nun merkte auch der Junge, dass etwas nicht in Ordnung war, und stand auf. Seine Mutter wandte sich ihm zu, schüttelte kurz den Kopf, bedeutend, dass sie die Situation unter Kontrolle habe. Sie bat den Mann mit entschiedenen, aber ruhigen Worten, sie loszulassen. Und einen Moment schien er kurz davor, ihr zu gehorchen. Aber dann gewann der Alkohol die Oberhand – oder die Einsicht, dass er selbst im Suffder körperlich Überlegene war. Und er packte noch fester zu und zog die Frau zu sich heran. Seine feuchten Lippen schürzten sich zu einem keuchenden Kuss, sein linker Arm fasste die Frau um die Schulter und zerrte sie näher; sie stieß sich mit ihrer freien Hand von seiner Brust ab und holte zu einer Ohrfeige aus; der Junge sprang auf.
    Und da tönte eine Stimme: »My dear soul!«
    Die Zudringlichkeiten des Wirts mussten die Aufmerksamkeit der Frau derart in Beschlag genommen haben, dass sie weder das Öffnen der Tür noch die Schritte durch den Raum mitbekommen hatte.
    Eine weiße, haarlose Hand fiel auf die Schulter des Wirts.
    Der wirbelte, nicht minder überrascht, herum. Die Dunkelheit der Stube ließ es scheinen, als schwebe dort ein bleicher, kahler Kopf, der ihn mit der Miene eines strengen und enttäuschten, aber geduldigen Lehrers musterte. Der Wirt wollte auffahren, doch die Hand drückte ihn nieder, und sein plötzlich schmerzverzerrter Ausdruck ließ ahnen, dass das Dickliche des Fremden täuschte, dass sich dahinter Muskeln und stählerne Kraft verbargen.
    Das fahle Gesicht beugte sich zu dem Wirt hinunter und flüsterte ihm ein paar Worte ins Ohr. Er wurde fast so bleich wie der Neuankömmling und beeilte sich, die Sitzbank zu verlassen und sich hinter seinen Tresen zu trollen.
    Der Fremde aber trat einen Schritt vor, dass seine gesamte, in nachtschwarzem Anzug gekleidete Gestalt sichtbar wurde, und deutete eine kleine Verbeugung vor der Frau und dem Jungen an. Sein Gesicht war so haarlos wie seine Hand, keine Strähne, keine Stoppel, keine Augenbraue, nicht einmal eine Wimper zierte es. Und er hatte von draußen einen Geruch nach kaltem Ruß mitgebracht.
    Er fragte höflich, ob es gestattet sei, Platz zu nehmen, hatte sich aber noch vor jeder Antwort schon

Weitere Kostenlose Bücher