Das finstere Tal - Willmann, T: Das finstere Tal
hatte, habe doch bewiesen, wie einfach das sei, wenn man keine überzogenen Ansprüche an die Wahrheit des Ganzen stellte. Alles, was es dann brauche, sei ein bisschen Fantasie. Jawoll, er, Holden, werde das gleich demonstrieren! Er werde den Versammelten hier und jetzt ihr bevorstehendes Schicksal, ihre verborgene Vergangenheit enthüllen! Das wurde, die beiden Frauen voran, mit allgemeinem Jubel und Gelächter begrüßt: Ja, das wolle man erleben, wie der Richter hier zum Wahrsager würde!
Holden griff sich den Leuchter, der in der Mitte des Tischs stand, pustete bis auf eine alle Kerzen darin aus und hielt sich das Licht dicht unters Gesicht, sodass es in der plötzlich deutlich dunkler gewordenen, niedrigen Gaststube einen dämonischen Schattenglanz annahm und durch Holdens wie immer schwarze Kleidung körperlos schien. Sich dieser Wirkung wohl bewusst, lehnte er sich zu der jungen Dame, die zu seiner Rechten saß, und schnitt einige groteske Fratzen, die sie mit einem Kreischen beantwortete, dessen Ängstlichkeit nur halb gespielt war.
Dann begann Holden, in deutlichst überzogener Parodie eines raunenden, bedeutungsschwangeren Tonfalls, mit seinen Weissagungen: Er blickte die junge Frau lang und tief an und beschied dann, sie, die reizende Dame, werde einen Millionär heiraten. Mit einem halb entzückten, halb belustigten Auflachen empfing sie diese Botschaft und quittierte sie mit einem ebenfalls parodistischen Schwall gerührter Dankesworte. Dann war ihre Freundin an der Reihe. Lang und tief blickte Holdens kerzenscheinumflackertes Gesicht auch siean und verkündete schließlich in übertrieben bedauerndem Trauerton: Sie werde, leider, leider, jung und verarmt sterben. Wieder lachten alle, wenngleich vielleicht nicht ganz so herzlich, und die junge Frau befleißigte sich, mit angemessen gespielter Bestürzung auf diese Nachricht zu reagieren – wobei ihr der Humor nicht ganz so leicht fiel wie ihrer Vorgängerin.
Aber schon wandte sich das frischgebackene Medium dem Wirt zu, der jedoch das bisherige Ritual abwehrte und meinte, er habe eine Frage. Nur zu, ermunterte ihn Holden, er wisse alles, sehe alles! »Where is my mother?« verlangte der Wirt. Es wundere ihn zwar, dass er das nicht wisse, ob er denn oft seine Eltern verlege, erwiderte Holden zum Amüsement der Übrigen, aber gut, er müsse sich nur einen Moment konzentrieren…Und wenige Sekunden später blickte er wieder auf, sah dem Wirt gerade in die Augen und erklärte: Die Mutter weile, wenngleich verwitwet, lebendig und wohlauf in Dublin, in Irland.
Einen Moment schaute der Wirt verdutzt, während ihn die anderen gespannt anstarrten. Dann zog er einen imaginären Hut und bestätigte, dass dies zu seiner großen Verblüffung tatsächlich die Wahrheit sei. Er müsse eingestehen, dass er Holdens Wahrsagerei für einen Witz gehalten habe – er nun aber nicht umhinkönne, ihm wirklich hellseherische Fähigkeiten zu bescheinigen. Holden genoss kurz das Raunen der Runde. Dann aber erklärte er, dass er zu seiner und wohl der allgemeinen Enttäuschung beichten müsse, lediglich Beobachtungs- und Kombinationsgabe sei hier am Werk gewesen. Und er wies alle auf die Wand hinter der Theke hin, wo zwei Fotografien, eine kleine Fahne, ein Druck und ein Stickbild hingen. Die eine Fotografie zeigte einen älteren Herrn, der im Sonntagsgewand vor einem gemalten Hintergrund posierte, und ihre oberen Ecken waren quer von zwei breiten, schwarzen Bändern traurig geschmückt. Auf der anderen,die solcher Verzierung entbehrte, war eine ältere Frau zu sehen, die in keinem edlen, aber dennoch spürbar ihrem besten Kleid vor nämlichem Hintergrund abgelichtet war. Die Fahne war die Irlands, der Druck zeigte – wie Holden erklärte, aufgrund seiner Reisen unschwer erkennen zu können – eine Ansicht der stolzesten Stadt dieser noblen Nation. Und das Stickbild war ein Herz, in dem der Spruch prangte: »My son. Though oceans apart, near and dear in my heart.« Und so müsse jeder der Anwesenden zugeben, dass es, einmal auf all dies aufmerksam geworden, keine große Kunst mehr war, seine »Weissagung« mit einigem Vertrauen zu wagen und damit das Richtige zu treffen. Der respektvolle Applaus, den die Gesellschaft ihm nun zollte, war dennoch nicht viel geringer, als er wohl angesichts veritabler Hellseherei ausgefallen wäre.
Schon aber richtete Holden seine Aufmerksamkeit auf den jungen Priester. Der schien nun, durch den Wirt inspiriert, auch selbst eine Frage stellen
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