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Das finstere Tal - Willmann, T: Das finstere Tal

Das finstere Tal - Willmann, T: Das finstere Tal

Titel: Das finstere Tal - Willmann, T: Das finstere Tal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Willmann
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kurzen schwarzen Locken, die bereits die knochige Stirn freigaben –, dies Gesicht war so nah vor dem der jungen Frau, als wolle er sie küssen mit seinen sinnlich-brutalen Lippen. In der Kühle der Frühlingsnacht war sein Keuchen heiß und feucht auf ihrer Haut, auf den salzigen Spuren ihrer Tränen.
    Mit einem Griff, der ihren Unterkiefer zu brechen drohte, riss er ihren Kopf herum, den sie vergeblich versucht hatte abzuwenden.
    »Schau hin!« brüllte er sie an und zeigte mit dem freien Arm hinüber, wo die anderen um den am Boden liegenden Mann herumstanden.
    Tief in ihrem Gedächtnis, noch bevor die ersten verschwommenen, halb geträumten Bilder sich habhaft machen ließen, fand sich im Urgrund ihrer Erinnerung ein Gefühl.
    Es war klar und stechend, war ihr unvergessbar in den Leib geschrieben. Es war das Gefühl des Hungers. Es war dieses ständige, beißende Loch in der Leibesmitte, es war das vergebliche Zehren an den Wurzeln, Stoffstücken, Kieseln, die man dem Säugling in den Mund schob, um das dauernde Schreien zu unterbrechen, es war das gierige Saugen an einer schlaffen Brust, die einem ausgelaugten Körper kaum noch Nährendes für diesen geliebten Parasiten zu entziehen vermochte.
    Im Dorf ihrer Familie war schon im dritten Jahr die Getreideernte himmelschreiend schlecht ausgefallen, und nun kamen auch noch die Kartoffeln faulig und ungenießbar aus der Erde. Bald hatten auch die letzten Bauern ihr gesamtesVieh geschlachtet – einschließlich jener Arbeits- und Zuchttiere, ohne die ein Neuanfang in besseren Zeiten fast unmöglich werden würde: Nicht nur, weil der Gedanke an die Zukunft verblasste vor dem gegenwärtigen Leid und man nicht warten wollte, bis die Tiere noch abgemagerter von selbst zugrunde gingen. Nein, viele griffen zum Beil, weil sie das unablässige, heisere Gebrüll der Kreaturen nicht mehr aushielten, die halb wahnsinnig vor Hunger in ihren Ställen standen.
    Und weil sie so tief – so vor jedem Begreifen, jeder Sprache – das Wissen in sich trug, wie diese Tiere, wie diese Menschen sich gefühlt hatten, vermochte sie später nie, ihren Eltern Vorwürfe zu machen, dass sie bereit gewesen waren, jeden sich bietenden Ausweg zu nehmen.
    Sie hätte gern wieder die Augen verschlossen, hätte den Priester gern gezwungen, ihr zur Not auch noch die Lider mit Gewalt aufzuhalten. Aber der Mann am Boden drei, vier Meter vor ihr,
ihr
Mann, hatte in dem Moment wieder das Auge geöffnet, welches nicht zugeschwollen war, und sie angeblickt. Und auch wenn dies eigentlich das Unerträglichste war für sie, konnte sie ihn jetzt nicht allein lassen, konnte sie ihm nicht den Verrat antun, sich abzuwenden. Sie waren beide hilflos, und das Einzige, was sie dem barbarischen Triumph der anderen entgegenzusetzen hatte, war, ihm durch ihren Blick zu bedeuten: ›Sie können uns umbringen, aber sie können uns nicht trennen. Was du getan hast, war aus Liebe. Und deshalb war es richtig, was du getan hast.‹
    Vier Gestalten standen um den am Boden Liegenden und warfen, im Licht von drei im Staub des Weges abgestellten Petroleumlaternen, ihre zittrigen Schatten auf ihn. Zwei waren gestandene Männer, der eine ein sehniger Typ mit einem dichten schwarzen Vollbart, der andere ein kahlköpfiger Hüne mitUnterarmen so stämmig wie die Oberschenkel eines gewöhnlichen Kerls. Die dritte Gestalt war ein junger Bursche, an der Schwelle zum Mannesalter, den die Ähnlichkeit der Gesichtszüge als Bruder des Bärtigen auswies.
    Die vierte Figur war ein Kind von nicht einmal zehn Jahren. Als Einziges hatte es nicht drohend seine Fäuste geballt, scharrte nicht um den Gefällten herum.
    Es lachte.
    Als es sah, dass der Mann, dessen Kleidung voller Dreck und Risse war, ein Auge aufgetan hatte und versuchte, sich auf kraftlosen, von blauen Flecken übersäten Armen aufzurappeln, hob es einen faustgroßen Stein vom Weg auf und warf ihn, so fest es eben konnte, dem Mann gegen die Stirn. Die drei Älteren johlten Anerkennung. Der Mann sackte wieder zu Boden, verlor aber nicht das Bewusstsein.
    Das Kind stellte sich vor ihn, beäugte interessiert das geschwollene Antlitz. Dann trat es – was weniger wie eine Geste purer Bosheit aussah denn wie entdeckerische Neugier – eine Staubwolke los, die genau im Gesicht des Mannes landete. Der bekam einen Hustenanfall, der ihn sich vor Schmerzen zusammenkrümmen ließ.
    Der Bärtige trat ihm ins Kreuz, uninteressiert, als würde er einen Hund von einem als Liegeplatz verbotenen

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