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Das finstere Tal - Willmann, T: Das finstere Tal

Das finstere Tal - Willmann, T: Das finstere Tal

Titel: Das finstere Tal - Willmann, T: Das finstere Tal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Willmann
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geworden war als ein Mädchen, und erschrocken darüber hätte sie den Burschen fast fortgescheucht. Aber dieses neue Gefühl – dass so ein männliches Wesen ja gar nicht so unangenehm sei und zwar durchaus fremd, aber auf eine aufregende und neugierig machende Art –, dieses Gefühl verbot ihr gerade noch rechtzeitig den schnippischen Mund. Und sie blickte hoch in das sonnenumkränzte Gesicht, das da schon langsam ungeduldig zu werden drohte, und sie überlegte noch einen Moment. Und dann lächelte sie, ließ den Grashalm fallen und gebot mit einem leichten Tätscheln des Baumstamms, dass, ja, er sich neben sie setzen dürfe.
    Er ließ es mit sich geschehen, dass der Bärtige ihn an den schlaffen Armen hochzerrte und der kleine Junge ihm den Holzbalken unter die Schultern schob. Er war schon so weit weg, sein Hirn von den vielen Schlägen und Erschütterungen so betäubt und verwirrt, dass er die neuen, scharfen Schmerzen, die der plötzliche Wechsel der Lage mit sich brachte, mit überraschtem Interesse wahrnahm – als gehörten sie einem anderen, als würde er nur teilnahmslos anerkennend beobachten, dass es nach dem langen Martyrium doch noch neue Formen und Qualitäten des Schmerzes gab. Und als sie seine Arme auf dem Balken ausbreiteten, da fuhr ihm zwar neben dem Leid der Glieder und der Wunden auch die neue Schutzlosigkeit seiner Position ins Mark, aber seine Lungen sogen so auch einen stechend frischen Schwall der Nachtluft ein, und für einen Moment war er alles vergessend erfüllt von der überraschten Feststellung, dass diese Luft zwar kühl war, aber ihr Duft warm – dass ihr noch die Temperatur des Winters in den Knochen steckte, aber sie schon kündete von aufgetauter Erde, vom Treiben der ungeduldigen Pflanzen.
    Und sein Verstand fand von da nicht den Weg zurück zu den Dingen, die mit seinem Körper geschahen. Für ein paar Sekunden tastete er verzweifelt danach, wie man vergebens nach etwas Vergessenem greift, von dem man einzig noch weiß, dass es sehr wichtig gewesen wäre. Aber als Breiser nun den Hünen in die Scheune schickte, da war das Auge des Mannes schon verschwimmend versunken in dem klaren Sternenhimmel, der sich jetzt über ihm ausbreitete, und sein Bewusstsein dämmerte fort, als es sich gerade über die Kälte und Ferne dieser schönen Lichter zu wundern begann.
    Sie saßen von jenem Tag an oft gemeinsam auf dem Baumstamm, und jedes Mal ein wenig enger beisammen. Was siedabei miteinander sprachen, wusste keiner von beiden nachher mehr so genau zu erinnern: Zu sehr lauschte man dem Klang der Stimme statt ihrer Worte, zu sehr war man allein versunken in das Wunder der Lippen, über die diese Worte kamen. Und wie war das erst, als man sich bei der allmählichen Annäherung der Sitzplätze auf dem Baumstamm so weit vorgetastet hatte, dass man den Atem des anderen dabei spürte, seine Wärme und Süße roch und die gelegentlichen, den Kopf leicht und wirr machenden Dünste der Haut, die aufstiegen, wenn sich der andere bewegte und der Sommerwind mit einem zutragenden Windstoß gnädig war! Da plapperte man irgendwas und hoffte, dass der andere dem ebenso wenig zuhörte wie man selbst dem, was jener sprach. Weil das alles übertönt wurde vom Pochen des Herzens, das einem den Atem kurz machte und die Ohren dicht und einem Angst einflößte, das Herz könnte bersten, wenn die Hand des anderen auf dem Baumstamm der eigenen noch auch nur einen Zentimeter näher rückte. Obwohl man zugleich nichts mehr ersehnte als eben das.
    Und eines Tages konnte es nicht länger ausbleiben, dass die Finger – keiner wusste, war es Absicht oder nur ein glückliches Zuviel des berührungslosen Herantastens – sich dann doch streiften. Und man merkte überrascht: Das tat dem Herzen gut, denn es überflutete es mit Glück. Und als auf diese Weise die Gefahr ausgeschlossen war, dass man an so einer Berührung durch einen Hammerschlag des Pulses dahinscheiden könnte, da gab es dann auch keinen Grund mehr, die Berührung nicht zu wiederholen. Und nachdem man sich mehrfach und unbestreitbar von der jedes Mal – und jedes Mal noch mehr – wohltuenden Wirkung dieses Treffens der Finger überzeugt hatte, welches man still und lang, ohne es zu erwähnen, genoss, da war es dann doch irgendwann an der Zeit, zu erkunden, was wohl geschähe,wenn nicht nur hautdünn Hand an Hand lag oder die einen Finger leicht und zärtlich die anderen bedeckten. Sondern wenn sich die Hände, die Finger verschränkten und griffen,

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