Das finstere Tal - Willmann, T: Das finstere Tal
weigerte sie sich, dazu mehr zu sagen. So konnte der Doktor den Grund für ihre Entscheidung nie verstehen. Aber er war Menschenkenner genug, um zu begreifen, dass es für die Frau tatsächlich notwendig und unabwendbar war zu gehen. Und sosehr ihm und seiner Frau die Fremde so etwas geworden war wie das Kind, das sie selbst nie hatten, so beschloss er doch, ihr nicht auch noch das offenbar unausweichlich Bevorstehende schwerer zu machen, als es ohnehin war.
Und so verließ sie das Dorf und die Ebene, und das Einzige, was sie davon mitnahm, waren ihre Albträume.
Jahrzehnte später fanden die Frau eine halbe Welt entfernt, auf einem anderen Kontinent – inzwischen ergraut, aber noch immer mit dem wiedergefundenen Lächeln ihrer Jugend, und glücklich. Sie lebte in einem erblühenden Städtchen an der langsam sich der Zivilisation ergebenden Westküste. Bis vor Kurzem hatte sie dort als Lehrerin gearbeitet, hatte einigen Generationen von Schülern das Rüstzeug gegeben, als in den wesentlichsten Dingen gebildete Menschen zu leben und ihren Geist zu gebrauchen. Ihr Mann, der sie noch immer glühend liebte, hatte es zum Bürgermeister des Städtchens gebracht, und sie hatte ihn nicht ein einziges Mal merken lassen, dass es Tiefen ihres Herzens gab, in denen er nie ruhen würde, weil der Zugang dorthin mit Narben verwachsen war. Er war ihrem Buben so gut Vater gewesen, wiedas eben ging, wenn der Sohn schon kein Kind mehr war, als er den neuen – und für ihn ersten – Mann im Leben der Mutter kennenlernte.
Und inzwischen war ihr Sohn selbst ein junger Mann geworden, gesund, kräftig, ihr gegenüber liebevoll. Und mit einem Talent gesegnet: dem des Künstlers.
Der aufregendste Moment dieser ruhigen Jahre – dieser Jahre, in denen ihr Leben endlich einen Ankerplatz fand – war, als ihr Junge sie bat, ihm Modell zu sitzen. Das war kurz nachdem sie Ausstand in ihrer Schule gefeiert hatte, weil ihr Mann sie mehr für sich haben wollte. Und vielleicht hatte ihr Sohn gespürt, wie seltsam ihr diese ersten ungewohnt leeren, aufgabenlosen Tage waren.
Er hatte sich Zeit genommen – viel mehr als für seine Landschaftsbilder, mehr auch als für die wenigen anderen Porträts, die alle eine aufkeimende Meisterschaft erkennen ließen. Zwei Tage hatte er sie zunächst nur skizziert, hatte mit seinem Kohlestift wieder und wieder versucht, etwas auf der Leinwand einzufangen, das mehr war als bloße äußere Ähnlichkeit und das sich seinem Zugriff nicht so leicht fügen wollte. Und fast eine Woche hatte er sich danach genommen, dieses Flüchtige bei der gleichsamen Fleischwerdung des Gesichts in Ölfarben nicht wieder zu verscheuchen. Gelegentlich verlor er über die Unzufriedenheit mit den eigenen Fähigkeiten die Geduld mit dem Vorbild, dem Modell. Und herrschte sie geradezu an, ihren Gesichtsausdruck nicht zu verändern oder den Kopf in genau diesem oder jenem Winkel zum Licht zu halten. Und erschrak dann über sich selbst, wurde rot, bat sie vielmals um Verzeihung, verließ manchmal die Leinwand, um ihr mit einer kleinen Zärtlichkeit zu zeigen, wie leid ihm diese Harschheit tat. Dabei verstand sie ohnehin, dass es just die Liebe zu ihr war, die ihn überhauptdazu getrieben hatte: Nicht ihr Porträt sollte auf diese Leinwand, sondern die Gefühle des Malers für sie, seine Mutter. Und jedes Scheitern an diesem Anspruch war für ihn ein Verrat an ihr, drohte für ihn zum Zeichen zu werden, dass nicht sein künstlerisches Vermögen, sondern dass seine Liebe der schwache Faktor in der Gleichung sein könnte.
Nie hatte sie mit einer Menschenseele über das gesprochen, was sie erlebt hatte, bevor sie einst im Haus des Arztes aufgewacht war. Und eigentlich war es ihr fester Wille gewesen, all das unausgesprochen mit ins Grab zu nehmen. Die Mauer war dick und stark geworden mit den Jahren. Und wenn in diesem oder jenem Monat doch einmal wieder ein Albtraum den Weg durch eine Ritze gefunden hatte, wenn er ihr Nachtbewusstsein packte und mit sich zurückriss in die Welt hinter der Wand, dann schrie sie immerhin schon lange nicht mehr im Schlaf. Dann warf sie sich schlimmstenfalls zwei, drei Mal unruhig hin und her, und wenn ihr Mann es überhaupt bemerkte, dann gab er die Schuld dem Vollmond.
Wirklich erklären konnte sie sich selbst nie, was sie dazu brachte, ihren Vorsatz zu ändern. Aber in der Woche, die sie starr und zumeist stumm inmitten ihres Zimmers auf einem Stuhl saß – leicht geblendet vom durchs Fenster auf ihr
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