Das finstere Tal - Willmann, T: Das finstere Tal
Gesicht fallenden Sonnenlicht, den Blick auf ihren Sohn gerichtet, so wie der Blick ihres Abbilds später auf den Betrachter zu fallen scheinen sollte –, da geschah etwas in ihr, mit ihr. Es hatte etwas zu tun mit dieser Liebe, die sie spürte. Die sie selbst für ihr Kind spürte, und die sie an ihm für sich fühlte. Aber es hatte auch etwas zu tun mit den herrischen Momenten, die ihn anfielen, mit der Ungeduld, dem Zorn, dem Willen, die daraus sprachen. Vielleicht aber hatte es am meisten schlicht damit zu tun, dass es der erste Moment seit ihrem damaligen Erwachen war, an dem sie zu fliehen aufgehört hatte.An dem sie einfach dasaß und sich – halb durch die Augen ihres Sohns – selbst betrachtete.
Am Tag bevor das Porträt vollendet werden sollte, am Ende der vorletzten Sitzung, sagte sie jedenfalls plötzlich zu ihrem Jungen: »Ich muss dir etwas erzählen.« Sie sagte es auf Deutsch, einer Sprache, die ihr seit Jahren nicht mehr über die Lippen gekommen war. Sie war selbst fast überrascht, dass sie gesprochen hatte, und was dabei ihre Worte gewesen waren. Doch in dem Augenblick war ihr auch klar, dass sie sie nicht zurücknehmen würde. Dass sie keine Ausflüchte machen oder eine belanglose Geschichte zum Besten geben würde. Sie war ganz ruhig vor dem, was sie nun tun würde, tun musste.
Sie winkte ihren Sohn zu sich und bedeutete ihm, vor ihrem Stuhl auf dem Boden Platz zu nehmen. Er schaute sie etwas verdutzt an, aber mit einem bloßen Nicken sagte sie ihm, dass dies seine Ordnung habe, dass dies nun so sein müsse. Und er spürte, dass dieser Moment ihm nichts anderes gestattete, als widerspruchslos zu gehorchen.
Und dann hob sie an zu erzählen.
Sie berichtete ruhig und nüchtern, fast flüsternd, aber mit lebendigster Erinnerung. Es war, als betrete sie ihr Gedächtnis wie eine lang verschüttete Schatzkammer und schildere einfach, staunend und genau, was sie dort, von Raum zu Raum ziehend, vor Augen hatte.
Ihr Sohn hörte schweigend zu und gebannt, und nach einer Weile legte er seine rechte Hand auf ihr Knie. Sie lächelte und bedeckte sie mit ihren beiden Händen.
Sie sprach und sprach, und auch als die Sonne längst hinter dem Fenster verschwunden war und das Zimmer nach und nach völlig von den Schatten bekrochen wurde, erhob sich keiner von den beiden, ein Licht anzuzünden.
Manchmal liefen ihre Augen mit Tränen über, aber sie ließ diese einfach die Wangen hinabrinnen, schluchzte nicht, ließin ihrer Stimme davon nichts merken außer dem allerleichtesten Beben.
Als die Zeit zum Abendessen unbeachtet gekommen und verstrichen war, klopfte es kurz, und ihr Mann schaute besorgt zur Tür herein. Sie versicherte ihm mit einem Lächeln, dass alles in Ordnung sei, und bat ihn mit einem zärtlichen Wink, sie alleine zu lassen. Er schaute noch eine Sekunde prüfend in ihr Gesicht und folgte ihrer Aufforderung dann willig und wortlos – ließ sie lediglich durch eine Geste wissen, dass er zu ihrer Verfügung stünde, aber ihr alle Zeit gab, die sie glaubte zu benötigen. Nie kamen ihre Gefühle für ihn großer Liebe näher als in diesem Moment.
Sie sprach und sprach, und sie beschönte, sie verschwieg nichts. An manchen Stellen ihrer Erzählung wollte sich die Hand auf ihrem Knie ballen, verkrampfen, aber sie hielt sie fest, streichelte sie mit zärtlicher Kraft. Sie drückte ihrem Sohn sanft, aber unnachgiebig auf die Schulter, wenn er aufspringen wollte. Sie legte einen Finger an die Lippen, wenn er etwas ausrufen, einwenden wollte.
Sie sprach und sprach, und sie beschönte, sie verschwieg nichts.
Sie erzählte bis zum bitteren Ende.
Und das Gesicht ihres Sohnes wurde finster vor Zorn.
»Du hast meine Mutter gekannt«, sagte Greider zu Breiser. Und er wartete ein, zwei Augenblicke, bis er durch das Gitter des Beichtstuhls erkennen konnte, wie sich auf dem Gesicht des Priesters Erkenntnis breitmachte.
»
Sie?
« stieß Breiser nach einem scharfen Luftschnappen hervor.
Und wie er das fragte, das verriet Greider, dass alles weitereReden überflüssig war, dass beide – auch ohne einen Namen genannt zu haben – von derselben Frau sprachen.
Breiser musste im selben Moment gemerkt haben, dass dieses eine einzige Wort
seine
Beichte gewesen war. Und dass das Einzige, was ihn bisher am Leben gehalten hatte, seine Unwissenheit war. Weil der Fremde nicht wollte, dass der Priester starb, ohne einen Grund dafür zu kennen.
Breiser riss seine Hände hoch vors Gesicht, und es entfuhr ihm ein
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