Das Flammende Kreuz
den Lippen, während er in einen Pappkarton voller Knochen griff und sagte: »Ich möchte nur wissen, ob du es auch bei Toten kannst, Lady Jane.«
Ich konnte es, hatte es getan. Er hatte mir einen Totenschädel gereicht, und die Erinnerung an Geillis Duncan durchfuhr mich wie flüssiges Eis.
»Du brauchst es nicht zu tun, Claire.« Jamies Hand schloss sich fester um die meine. »Ich werde dich deshalb nicht für feige halten. Seine Stimme war sanft und ernst, im Wind kaum zu hören.
»Ich schon«, sagte ich und spürte, wie er nickte. Damit war die Angelegenheit also erledigt; er ließ meine Hand los und ging vor mir her, um das Tor zu öffnen.
Er blieb stehen, und meine an die Dunkelheit gewöhnten Augen erhaschten die klare, scharfe Linie seines Profils, als er den Kopf wandte, um zu lauschen. Die Blendlaterne in seiner Hand roch heiß und ölig, und ein schwaches Leuchten, das durch ihre durchbrochene Seitenwand entwischte, besprenkelte den Stoff seines Umhangs mit winzigen Flecken aus gedämpftem Licht.
Ich sah mich ebenfalls um und blickte zum Haus zurück. Trotz der späten Stunde brannten immer noch Kerzen im hinteren Salon, wo die Kartenspieler kein Ende fanden; als der Wind sich drehte, fing ich leises Stimmengemurmel auf, und plötzlich lachte jemand. Die oberen Stockwerke waren zum Großteil dunkel - bis auf ein Fenster, das ich als Jocastas erkannte.
»Deine Tante ist noch wach«, flüsterte ich Jamie zu. Er drehte sich um und blickte zum Haus.
»Nein, das ist Duncan«, sagte er leise. »Meine Tante braucht schließlich kein Licht.«
»Vielleicht liest er ihr im Bett etwas vor«, mutmaßte ich, um vom ernsten Anlass unseres nächtlichen Ausfluges abzulenken. Von Jamie kam ein leises, verächtliches Prusten, doch die bedrückende Atmosphäre lockerte sich ein wenig. Er entriegelte das Tor, drückte dagegen, und ein tiefschwarzes Rechteck tat sich auf. Ich kehrte den freundlichen Lichtern des Hauses den Rücken und trat hindurch. Ein wenig kam ich mir vor wie Persephone beim Betreten der Unterwelt.
Jamie ließ das Tor zuschwingen und reichte mir die Laterne.
»Was machst du denn da?«, flüsterte ich, als ich seine Kleider rascheln hörte. Jenseits des Tores war es so dunkel, dass ich ihn nur als verschwommenen, schwarzen Fleck sehen konnte, doch das schwache Geräusch, das jetzt folgte, verriet mir, was er tat.
»Ich pinkele auf die Torpfosten«, erwiderte er flüsternd. Dann trat er zurück, und es raschelte erneut, als er seine Hose wieder zuknöpfte. »Wenn es sein muss, tun wir es, aber ich möchte nicht, dass uns irgendetwas zum Haus zurückfolgt.«
Ich antwortete meinerseits verächtlich prustend, erhob jedoch keinen Einwand, als er darauf beharrte, sein Ritual an der Tür des Schuppens zu wiederholen. Einbildung oder nicht, die Nacht schien irgendwie bewohnt zu sein, als bewegten sich unsichtbare Dinge durch die Dunkelheit, murmelnd unter der Stimme des Windes.
Es war beinahe eine Erleichterung einzutreten, denn im Schuppen regte
sich kein Lüftchen, wenn die Gerüche des Todes auch gemeinsam mit dem Mief von Rost, vergammeltem Stroh und verschimmeltem Holz eine drückende Mischung ergaben. Es ertönte ein leises, metallisches Schaben, als die Blende der Laterne beiseite glitt, und ein gleißender Lichtstrahl erhellte den engen Schuppen.
Sie hatten die tote Sklavin auf ein Brett gelegt, das auf zwei Tischböcken ruhte. Sie war bereits gewaschen und ordentlich aufgebahrt, eingehüllt in ein Leichentuch aus grobem Musselin. Neben ihr standen ein kleiner Brotlaib und ein Becher Brandy. Ein kleines, sorgfältig zusammengebundenes Kräutersträußchen lag genau über ihrem Herzen auf dem Leichentuch. Jamie bekreuzigte sich, als er es sah, und sah mich beinahe anklagend an.
»Grabbeigaben anzurühren, bringt Unglück.«
»Bestimmt bringt es nur Unglück, wenn man sie stiehlt«, beruhigte ich ihn mit gedämpfter Stimme, bekreuzigte mich aber ebenfalls, bevor ich die Gegenstände entfernte und sie in einer Ecke des Schuppens auf den Boden stellte. »Ich lege sie zurück, wenn ich fertig bin.«
»Mmpfm. Warte noch einen Augenblick, Sassenach. Fass sie noch nicht an.«
Er grub in den Tiefen seines Umhangs nach und brachte ein kleines Fläschchen zum Vorschein. Er entkorkte es, hielt zwei Finger an die Öffnung und ließ ein wenig Flüssigkeit herauslaufen, die er über der Leiche versprühte. Dabei murmelte er rasch ein gälisches Gebet, in dem ich die Bitte an St. Michael erkannte, uns vor
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