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Das Flammende Kreuz

Titel: Das Flammende Kreuz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Gabaldon
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Waldbeeren kämpfte, war ihm nicht minder bewusst, dass dieser Wald ihn verschlingen konnte, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern.
    Dennoch hatten seine schier Furcht erregenden Dimensionen etwas Tröstendes
an sich. Inmitten der gigantischen Bäume und der wimmelnden Fauna fand Roger ein wenig Frieden; Frieden vor den aufgestauten Worten in seinem Kopf, vor der unausgesprochenen Sorge in Briannas Augen, vor der Verurteilung in Jamies Miene - einer aufgeschobenen Verurteilung, die aber dennoch über ihm hing wie ein Damoklesschwert. Frieden vor den neugierigen Blicken, vor der beständigen, langsamen, schmerzhaften Mühsal des Sprechens - Frieden vor der Erinnerung an das Singen.
    Sie fehlten ihm alle, vor allem Brianna und Jemmy. Er träumte selten etwas Zusammenhängendes; nicht wie Brianna - was schrieb sie wohl gerade in ihr Buch? -, doch heute Morgen war er wach geworden, weil er den lebhaften Eindruck hatte, dass Jemmy auf ihm herumkrabbelte, wie er es so gern tat, und neugierig stochernd Rogers Gesicht betastete, seine Augen und Ohren, seine Nase und seinen Mund erkundete, als suche er nach den fehlenden Worten.
    Während der ersten Tage seiner Vermessungsexpedition hatte er überhaupt nicht gesprochen und war überaus erleichtert gewesen, dass er es nicht musste. Doch jetzt fing er allmählich wieder an zu reden - zwar missfiel ihm der heisere, gequälte Klang der Worte, doch er störte ihn jetzt nicht so sehr, weil ja sonst niemand da war, der es hören konnte.
    Er hörte Wasser über Steine gurgeln, und als er jetzt einen Vorhang aus Weidenschösslingen durchbrach, lag der Bach zu seinen Füßen, und die Sonne brach sich glitzernd auf dem Wasser. Er kniete sich hin, trank und bespritzte sich das Gesicht, dann wählte er die Stellen am Ufer aus, die er als Messpunkte benutzen wollte. Er grub Notizbuch, Tinte und Federkiel aus der Ledertasche, die er über der Schulter trug, und fischte das Astrolabium aus seinem Hemd.
    Er hatte ein Lied im Kopf - schon wieder. Sie schlichen sich an, wenn er gerade nicht hinsah, und in seinem inneren Ohr erklangen die Melodien wie Sirenen auf einem Felsen, die nur darauf warteten, ihn zu zerschmettern.
    Allerdings nicht dieses hier. Er lächelte vor sich hin, während er den Zeiger des Astrolabiums verschob und einen Baum am anderen Ufer als Fixpunkt wählte. Es war eines von den Kinderliedern, die Brianna Jemmy oft vorsang. Eins dieser fürchterlichen Lieder, die man nicht mehr loswurde, wenn man sie einmal im Kopf hatte. Während er seine Vermessungen durchführte und in seinem Buch notierte, sang er vor sich hin, ohne sich daran zu stören, wie verzerrt die Töne waren.
    »Hörst du die... Regenwürmer husten... wenn sie durchs... dunkle Erdreich zieh’n...«
    Fünftausend Acres. Was zum Teufel sollte er nur damit anfangen? Was zum Teufel sollte er nur anfangen - Ende der Frage.
    »Wenn sie... sich winden, um zu... verschwinden... auf Nimmer... Nimmerwiederseh’n...«

    Ich fand schnell heraus, warum mein Name Tsatsa’wi so viel zu bedeuten schien; der Name des Dorfes war Kalanun’yi - Rabendorf. Ich sah zwar keine Raben, als wir auf die Dorfstraße ritten, hörte aber einen heiser von den Bäumen rufen.
    Das Dorf lag ganz bezaubernd in einem schmalen Flusstal am Fuß eines Hügels. Um das eigentliche Dorf breiteten sich Felder und Obstgärten aus. Ein Flüsschen strömte daran vorbei, stürzte einen kleinen Katarakt hinunter und floss weiter unten im Tal in etwas hinein, das wie ein riesiges Bambusdickicht aussah - Röhricht, dessen riesige, belaubte Stängel in der frühen Nachmittagssonne glänzten wie mit Gold bestäubt.
    Von den Dorfbewohnern wurden wir mit herzlicher Begeisterung begrüßt, reichlich beköstigt und mit einem Unterhaltungsprogramm bedacht, das einen Tag und eine Nacht dauerte. Am Nachmittag des zweiten Tages lud man uns ein, einer Bittzeremonie beizuwohnen, in deren Verlauf die für die Jagd zuständige Gottheit um ihr Wohlwollen und ihren Schutz für die Expedition in Sachen Geisterbär angerufen wurde, die am nächsten Tag stattfinden sollte.
    Bis zu meiner Begegnung mit Jackson Jolly war es mir nie in den Sinn gekommen, dass es bei den indianischen Schamanen nicht minder unterschiedliche Talente geben könnte als unter den Mitgliedern des christlichen Klerus. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich bereits diverse Exemplare beider Gattungen erlebt, doch da die Mysterien der Sprache als Filter fungierten, war mir bis jetzt nicht klar gewesen, dass die

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