Das Flammende Kreuz
seiner Mutter sah. Doch dann war es vorüber gegangen, die Bilder hatten ihre Bedeutung verloren und waren einfach zu Bestandteilen des losen Durcheinanders im Haus des Reverends geworden. Jetzt sah er sie wieder deutlich vor sich, und das Gefühl der Enge war wieder da. Er räusperte sich kräftig, um es zu lindern.
»Brauchst du Wasser?« Sie machte Anstalten, sich zu erheben, und streckte die Hand nach dem Krug und dem Becher aus, den sie für ihn auf einem Hocker neben dem Bett stehen hatte, doch er schüttelte den Kopf und legte ihr die Hand auf die Schulter, um sie davon abzuhalten.
»Es geht schon«, sagte er ein wenig rau und räusperte sich erneut. Sein Hals fühlte sich genauso eng und schmerzhaft an wie in den Wochen unmittelbar
nach dem Galgen. Seine Hand tastete unwillkürlich nach der Narbe, und er strich die gezackte Linie unter seinem Kinn mit der Fingerspitze glatt.
»Weißt du«, sagte er, um sich wenigstens einen Moment abzulenken, »du solltest ein Selbstporträt malen, wenn du das nächste Mal deine Tante auf River Run besuchst.«
»Wer, ich?« Sie klang verblüfft, wenn auch, so dachte er - angenehm überrascht über diese Idee.
»Sicher. Du kannst es, das weiß ich. Und dann gäbe es... nun ja, ein dauerhaftes Dokument, meine ich.« Damit sich Jemmy an dich erinnern kann, falls dir etwas zustößt. Die Worte schwebten über ihnen in der Dunkelheit und ließen sie beide eine Weile schweigen. Verdammt, und er hatte sie doch beruhigen wollen.
»Ich hätte gern ein Porträt von dir«, sagte er leise und streckte einen Finger aus, um die Rundung ihrer Wange und Schläfe nachzuzeichnen. »Wenn wir ganz alt sind, können wir es uns dann ansehen, und ich kann dir sagen, dass du dich überhaupt nicht verändert hast.«
Sie prustete leise auf, wandte aber den Kopf und küsste ihn kurz auf die Finger, bevor sie sich auf den Rücken drehte. Sie reckte sich, spitzte die Zehen, bis ihre Gelenke knackten, und entspannte sich dann mit einem Seufzer.
»Ich überlege es mir«, sagte sie.
Im Zimmer war es still bis auf das Murmeln des Feuers und das sanfte Ächzen der Holzbalken, die sich der Temperatur anpassten. Die Nacht war kalt, aber windstill; der Morgen würde nebelig werden - als er im Freien gewesen war, hatte er gespürt, wie sich die Feuchtigkeit sammelte und vom Wald herüberwehte. Doch innen war es warm und trocken. Brianna seufzte erneut; er konnte spüren, wie sie an seiner Seite in den Schlaf zurücksank, konnte spüren, wie er auch ihn überkam.
Die Versuchung, aufzugeben und sich schmerzlos davontragen zu lassen, war groß. Doch während Briannas Ängste vorübergehend beruhigt sein mochten, hörte er nach wie vor jenes Flüstern - »Er könnte sich überhaupt nicht an mich erinnern.« Doch es kam von der anderen Seite der Tür in seinem Kopf.
Doch, das kann ich, Mama , dachte er und schob die Tür vollständig auf.
»Ich war dabei«, sagte er leise. Er lag auf dem Rücken und starrte zu den Eichenbalken der Decke empor. Seine an die Dunkelheit gewöhnten Augen konnten gerade eben die Fugen der Sparren erkennen.
»Was? Wobei?« Er konnte die Schwere des Schlafes in ihrer Stimme hören, doch die Neugier weckte sie wieder.
»Bei meiner Mutter. Und meiner Großmutter. Als... die Bombe.«
Er hörte, wie sie ihm ruckartig den Kopf zuwandte, weil sie merkte, welche Kraft ihn diese Worte kosteten, doch er starrte weiter bewegungslos zu den dunklen Deckenbalken hinauf.
»Möchtest du es mir erzählen?« Briannas Hand fand die seine, umschloss sie und drückte zu. Ohne sich dessen so recht bewusst zu sein, nickte er schwach und erwiderte den Händedruck.
»Aye. Ich muss wohl«, sagte er leise. Er seufzte tief auf und roch die Düfte von gebratenen Maisküchlein mit Zwiebeln, die immer noch in den Ecken der Hütte hingen. Irgendwo im Inneren seiner Nase bildete er sich ein, Lüftungsventile und Frühstücksporridge zu riechen, feuchte Wolle, und der Benzingeruch der Lieferwagen weckte die stummen Führer durch das Labyrinth seiner Erinnerung.
»Es war nachts. Es gab Luftalarm. Ich wusste zwar, was das war, aber es hat mich jedes Mal zu Tode erschreckt. Wir hatten keine Zeit, uns anzuziehen, Mama hat mich aus dem Bett gezerrt und mir einen Mantel über den Schlafanzug gezogen, dann sind wir aus der Wohnung und die Treppe hinuntergerannt - es waren sechsunddreißig Stufen, ich hatte sie an diesem Tag alle gezählt, als wir vom Einkaufen nach Hause kamen - und zum nächsten Schutzraum
Weitere Kostenlose Bücher