Das Flammende Kreuz
ihr sanft die Hand, und ihr Griff lockerte sich etwas.
Er schloss die Augen und ließ es geschehen.
»Zuerst konnte ich mich an nichts erinnern«, sagte er schließlich leise. »Oder besser, ich konnte es schon - aber ich habe mich an das erinnert, was die Leute mir erzählt hatten.« Natürlich konnte er sich nicht daran erinnern, wie man ihn bewusstlos durch den Tunnel getragen hatte, und nach seiner Rettung war er mehrere Wochen lang gemeinsam mit anderen Waisen von einer Notunterkunft zur nächsten Pflegefamilie weitergereicht worden, stumm vor Schrecken und Verwirrung.
»Ich kannte natürlich meinen Namen und meine Adresse, aber das war unter den Umständen nicht besonders hilfreich. Mein Vater war schon lange abgestürzt... Also jedenfalls, bis die Hilfsorganisation Omas Bruder gefunden hatte - das war der Reverend - und er mich dann holen kam, hatten sie die Geschichte der Ereignisse im Schutzraum zusammengepuzzelt. Es war ein Wunder, dass ich nicht mit den anderen auf der Treppe umgekommen bin, hat man mir gesagt. Sie haben gesagt, dass meine Mutter mich irgendwie in der Panik verloren haben muss - ich müsse von ihr getrennt und von der panischen Menge die Treppe hinuntergetragen worden sein; so sei ich auf der unteren Ebene gelandet, wo die Decke gehalten hat.«
Briannas Hand war um die seine geschmiegt, schützend, doch jetzt ohne Druck.
»Jetzt erinnerst du dich, wie es war?«, fragte sie leise.
»Ich konnte mich erinnern, dass sie meine Hand losgelassen hat«, sagte er. »Also dachte ich, dass der Rest der Geschichte auch stimmte. Aber so war es nicht. Sie hat meine Hand losgelassen«, sagte er. Die Worte kamen jetzt leichter; die Enge in seiner Kehle und seiner Brust war fort. »Sie hat meine Hand losgelassen... und dann hat sie mich hochgehoben. Diese kleine Frau - sie hat mich hochgehoben und mich über die Mauer geworfen. Hinunter in die Menschenmenge auf dem Bahnsteig. Ich glaube, der Sturz hat mir das Bewusstsein geraubt - aber ich erinnere mich an das Dröhnen, als die Decke eingestürzt ist. Von den Leuten auf der Treppe hat niemand überlebt.«
Sie presste ihr Gesicht an seine Brust, und er spürte, wie sie tief erschauernd Atem holte. Er strich ihr über das Haar, und sein hämmerndes Herz begann sich endlich zu verlangsamen.
»Schon gut«, flüsterte er ihr zu, obwohl seine Stimme belegt und brüchig war und der Feuerschein in sternenförmigen Flecken durch die Feuchtigkeit in seinen Augen drang. »Wir vergessen es nicht. Jemmy nicht und ich auch nicht. Was auch immer geschieht. Wir vergessen es nicht.«
Er konnte das Gesicht seiner Mutter sehen, das deutlich zwischen den Sternen leuchtete.
Kluges Kerlchen, sagte sie und lächelte.
99
Bruder
Die Schneeschmelze setzte ein. Ich war hin und her gerissen zwischen meiner Freude über das Auftauen der Welt und den Frühling, der im Boden pulsierte-und meiner Bestürzung über den Verlust der eisigen Barriere, die uns, wenn auch nur vorübergehend, von der Außenwelt abschirmte.
Jamie hatte seine Absicht nicht geändert. Er verbrachte einen ganzen Abend damit, einen sorgsam formulierten Brief an Milford Lyon zu verfassen. Er sei jetzt bereit, so schrieb er, über einen Verkauf seiner Waren - sprich: seines illegalen Whiskys - nachzudenken, wie Mr. Lyon es vorgeschlagen habe, und er könne zu seiner großen Freude mitteilen, dass ihm jetzt eine beträchtliche Menge zur Verfügung stehe. Allerdings sei er besorgt, dass seinen Waren bei der Auslieferung etwas zustoßen könne - dass sie nämlich von Zollbeauftragten abgefangen oder unterwegs gestohlen werden könnten -, und er wünsche die Zusicherung, dass seine Waren von einem Mann transportiert würden, der einen guten Ruf habe, was die Abwicklung derartiger Angelegenheiten angehe - mit anderen Worten, von einem Schmuggler, der sich an der Küste bestens auskannte.
Sein guter Freund Mr. Priestley aus Edenton (den er im Leben noch nicht gesehen hatte), so schrieb er, habe ihm ebenso wie Mr. Samuel Cornell, mit dem ihn die Ehre verband, im Kriegsrat des Gouverneurs gedient zu haben, versichert, dass ein gewisser Stephen Bonnet mit Abstand der fähigste Mann in solchen Dingen sei und sein Ruf von niemandem übertroffen werde. Falls Mr. Lyon im Stande sei, ein Zusammentreffen mit Mr. Bonnet zu arrangieren, so dass Jamie sich selbst einen Eindruck verschaffen und sich von der Gefahrlosigkeit des geplanten Übereinkommens überzeugen könne, dann...
»Glaubst du, er wird es tun?«, fragte
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