Das fliegende Klassenzimmer.
Pult, das er für seine Eltern gemalt hatte. Es war noch nicht ganz fertig, und er malte weiter. Er wollte es zu Haus unter den Christbaum legen.
Morgen, spätestens übermorgen, musste das Reisegeld eintreffen, das ihm die Mutter schicken würde.
Das Bild war ziemlich merkwürdig. Man sah einen grünen See darauf und hohe schneebedeckte Berge. An den Ufern des Sees standen Fahnen und Orangenbäume mit großen Apfelsinen in den Zweigen. Auf dem See schwammen vergoldete Gondeln und Boote mit rostroten Segeln. Auf der Uferstraße fuhr eine blaue Kutsche. Diese blaue Kutsche wurde von sechs Apfelschimmeln gezogen. In der Kutsche saßen Martins Eltern in ihren Sonntagskleidern. Und auf dem Kutschbock saß Martin selber. Er war aber älter als jetzt und hatte einen feschen dunkelblonden Schnurrbart. Neben der Kutsche standen Leute in bunten, südlichen Gewändern und winkten. Martins Eltern nickten freundlich nach allen Seiten, und Martin senkte zum Gruß die geflochtene Peitsche.
Das Bild hieß: »In zehn Jahren«. Und der Junge meinte damit wohl: In zehn Jahren werde er so viel Geld verdienen, dass die Eltern dann, von ihm geführt, Reisen in ferne, seltsame Länder machen könnten.
Matthias betrachtete das Gemälde, kniff die Augen halb zu und sagte: »Teufel, Teufel! Du wirst bestimmt mal so ‘ne Nummer wie der Tizian oder der Rembrandt. Ich freue mich jetzt schon drauf, wenn ich später mal sagen kann: >Ja, der Martin Thaler, der war früher mein Primus. Und ein ganz verfluchter Kerl war er außerdem. Wir haben manches miteinander ausgefressen.<« Bei dem Wort »ausgefressen« fiel ihm ein, dass er wieder Hunger hatte, und er setzte sich rasch an sein Pult, in dem immer irgendwelche Nahrungsmittel lagerten. Auf der Innenseite des Pultdeckels waren die Fotografien sämtlicher Boxweltmeister festgezweckt.
Sogar der schöne Theodor ließ sich Martins Bild zeigen und fand, es sei eine ausgesprochene Talentprobe.
Es war ein sehr gemütlicher Abend. Die Sextaner und Quintaner steckten die Köpfe zusammen und gestanden einander, was für Wunschzettel sie heimgeschickt hätten. Und dann begann der Obersekundaner Pritsche eine Geschichte zu erzählen, die vormittags im Unterricht passiert war. Schließlich hörten alle Zimmerbewohner zu.
»Jedes Jahr macht der Grünkern regelmäßig ein und denselben Witz«, berichtete Pritsche. »Dieser Witz ist immer fällig, wenn er in der Sekunda auf die Beschaffenheit des Mondes zu sprechen kommt. Alljährlich, und zwar seit mehr als zwanzig Jahren, sagt er zu Beginn seiner Stunde: >Wir wollen vom Monde sprechen -sehen Sie mich an!<«
»Wieso ist denn das ein Witz?«, fragte der Quintaner Petermann. Aber die anderen lachten: »Pst!« Und so schwieg er.
Der schöne Theodor sagte: »Bei uns hat kein Aas mehr darüber gelacht.«
In diesem Augenblick lachte der Quintaner Petermann laut. Er hatte den Witz kapiert.
»Na, ist der Groschen gefallen?«, fragte Matthias.
Pritsche sagte: »Wir haben es besonders raffiniert gemacht.
Wir wussten, dass der Witz heute fällig war, und hatten alles genau verabredet. Als der Direx seinen berühmten Satz heraushatte, lachte die hinterste Reihe in der Klasse. Da freute er sich natürlich. Und dann wollte er zu reden fortfahren. Da lachte aber die zweite Reihe. Und so freute sich der Grünkern gleich noch einmal.
Doch gerade als er weitersprechen wollte, lachte die dritte Reihe. Da verzog er nur das Gesicht. Und dann lachte die vierte Reihe. Da wurde er gelbgrün. Und in diesem Moment lachte die vorderste Reihe. Da war er vollkommen erledigt. Er hing nur noch im Anzug. >Gefällt Ihnen der Witz nicht, meine Herren?<, fragte er. Da stand der Mühlberg auf und sagte:
>Der Witz ist ja gar nicht so übel, Herr Oberstudiendirektor.
Aber mein Vater hat mir erzählt, dass der Witz, als mein Vater in die Sekunda ging, schon so alt war, dass er hätte pensioniert werden müssen. Wie war’s denn, wenn Sie sich einmal was Neues einfallen ließen?< Da antwortete der Grünkern nach einer langen Pause: >Vielleicht haben Sie Recht. < Und dann rannte er mitten in der Stunde aus dem Klassenzimmer hinaus und ließ uns allein. Er sah aus, als ob er zu seinem eigenen Begräbnis zu Fuß ginge.«
Pritsche lachte, und ein paar andere lachten mit. Doch die meisten schienen mit den Sekundanern nicht ganz einverstanden zu sein. »Ich weiß nicht recht«, sagte einer, »aber ihr hättet den alten Mann nicht so ärgern sollen.«
»Warum denn nicht?«, rief Pritsche.
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