Das Flüstern der Albträume
durch das zerzauste Haar. Mit einem Klingeln öffnete sich der Aufzug, und sie zog ihr Handy aus der Handtasche. Sie rief im King’s an.
Ein alter Mann nahm ab. » King’s .«
»Eva Rayburn, bitte.«
Er zögerte kurz. »Sie ist nicht hier.«
»Sind Sie King?«
»Höchstpersönlich.«
»Hier spricht ihre Schwester, Angie Carlson.« Sie schluckte einen Kloß im Hals hinunter. »Sagen Sie ihr, sie soll mich so schnell wie möglich anrufen.«
Angie legte auf, taumelte aus dem Aufzug und hastete durch die Lobby. Als sie in die helle Mittagssonne hinaustrat, zuckte sie zusammen. Was habe ich nur getan?
Evas Nackenhaare stellten sich auf, als stünde jemand hinter ihr und würde sie beobachten. Doch als sie sich umdrehte, sah sie nur Polizeibeamte aus der Dienststelle herauskommen oder hineingehen. Verständlich, dass sie nervös war. Vor Jahren hatte sie sich geschworen, nie wieder einen Fuß in ein Polizeirevier zu setzen, und doch stand sie nun hier. Die Anspannung. Das Gefühl, beobachtet zu werden. Es war nur logisch.
Sie atmete tief ein und betrat das Polizeipräsidium in der Mill Street. Der brennende Zorn in ihrem Inneren, der sie hergetrieben hatte, kühlte langsam ab. Hoffentlich hatte sie noch genug Feuer, um Garrison mit ihrem Vorwurf zu konfrontieren.
Evas Finger krampften sich um die Gurte ihres Rucksacks, als sie an den Empfang trat. Der grauhaarige Beamte blickte ohne jede Spur eines Grußes in den Augen auf.
»Ma’am?« Es klang bemüht, als hielte er sie nicht für alt genug, um so angeredet zu werden.
Eva war nicht in der Stimmung, sich bewerten zu lassen, und straffte die Schultern. »Ich möchte zu Detective Deacon Garrison.«
Der Beamte verschränkte die Finger. »Er ist in einem Meeting.«
»Sagen Sie ihm, dass Eva Rayburn ihn sprechen möchte.« Ihre kühle Stimme verbarg das flaue Gefühl in ihrem Magen.
Eine ganze Weile starrte der Beamte sie nur an.
»Wenn Sie es nicht tun, wird er verärgert sein.«
Der Mann seufzte und hob den Hörer ab. Er tippte einige Ziffern ein, wartete zwei Sekunden und sagte dann: »Hier unten ist eine Eva Rayburn.«
Eva wurde übel. Am liebsten wäre sie gegangen und hätte den ganzen Schlamassel vergessen. Ja, klar. Seit zehn Jahren versuchte sie, zu vergessen, und wohin hatte es sie gebracht? Wieder an den Startpunkt, wo sie denselben Dämonen gegenüberstand wie damals.
Der Beamte legte auf. »Er kommt gleich.«
»Danke.« Sie sah sich in der Eingangshalle um, unsicher, ob sie sich setzen oder auf und ab gehen sollte. Sie entschied sich stehenzubleiben, aber nicht auf und ab zu gehen. Denn das hätte Verzweiflung signalisiert, und sie war nicht verzweifelt. Sie war wütend.
Eine Tür an der Seite der Eingangshalle öffnete sich, und Garrison erschien. Er trug eine dunkle Hose, ein weißes Hemd und ein Sportjackett, das seine breiten Schultern betonte. Das schmale Gesicht wirkte sauber rasiert noch kantiger, zudem im Moment etwas eingefallen, als hätte Stress ihn wachgehalten. Zumindest war sie nicht die Einzige, die nicht schlafen konnte.
Garrison durchquerte die Lobby und war mit ein paar langen Schritten bei ihr. »Eva.«
Sie rückte den Rucksack auf ihrem Rücken zurecht und fühlte sich nervöser als der Situation angemessen war. »Ich würde gern mit Ihnen sprechen.«
»Natürlich.« Kein Zögern, aber auch kein Drängen, ganz wie ein Fischer, der einen großen Fang einholt.
»Gut.«
»Kommen Sie mit in mein Büro.«
»Okay.«
Das letzte Mal war sie am Morgen nach der Vergewaltigung und dem Brand auf einer Polizeidienststelle gewesen. Die Cops hatten sie in einen kahlen Raum gesteckt – ein Tisch, zwei Stühle – und sie dann stundenlang schmoren und grübeln lassen. Als schließlich der Sheriff zum Verhör hereinkam, war sie ein Nervenbündel gewesen.
Garrison führte sie durch die Tür, durch die er gekommen war, und über eine Treppe nach oben. »Ich nehme normalerweise nicht den Aufzug. So geht es schneller.«
»Schon okay. Ich bin ans Treppensteigen gewöhnt.«
Er öffnete die Tür zum ersten Stock und wartete, bis Eva hindurchging. Ein Großraumbüro und das Gemurmel vieler Stimmen, in das sich gelegentliches Telefonklingeln mischte, empfingen sie. Niemand schien von ihr Notiz zu nehmen. Sie war nur irgendeine Frau an einem ganz gewöhnlichen Tag. Nicht die Hauptverdächtige in einem Mordfall, über die die ganze Dienststelle sprach.
»Hier entlang«, sagte Garrison.
Sie folgte seinem ausgestreckten Arm durch einen
Weitere Kostenlose Bücher