Das Flüstern der Albträume
geradeaus auf die Straße. An seinem Kiefer zuckte ein Muskel, und es sah aus, als würde er nicht antworten. »Selbstmord.«
Das Wort kam gepresst, als hätte er gerade ein schreckliches Geheimnis gebeichtet. »Warum?«
Wieder eine Pause, und Eva spürte, dass sie gerade in den dunkelsten aller Winkel hineingeleuchtet hatte. »Sie war schon längere Zeit krank.«
»Meine Mutter hat sich auch umgebracht. Sie mochte nicht ohne meinen Dad leben. Und dann wurde sie krank. Zu leben war wohl einfach zu mühsam.«
»Sie hatte Sie.«
»Und Ihre Frau hatte Sie. Manchmal ist das einfach nicht genug, um einen Menschen zu retten.«
Garrison warf ihr einen Blick zu. Und in seinen Augen sah sie überlebensgroßen Schmerz und Zorn. »Klingt, als hätten sie viel darüber nachgedacht.«
»Das ist der eine Vorteil am Gefängnis. Man hat viel Zeit zum Nachdenken.«
Dieser große, starke Mann, der beinahe so wirkte, als könnte ihm keine Kugel etwas anhaben, trug eine Verletzung mit sich herum, die der Anspannung in seinen Schultern nach zu urteilen nie wirklich verheilt war. Seltsamerweise fühlte Eva sich dadurch, dass sie nicht die einzige beschädigte Person im Auto war, weniger allein.
Garrison verlangsamte den Wagen, als sie sich den weißen Säulen am Eingang der Universität näherten, und fuhr über die Zufahrt zum vorderen Parkplatz. Seit Evas letztem Besuch war er asphaltiert worden, und man hatte ein paar zusätzliche Fahrradständer aufgestellt und sogar Notrufsäulen installiert.
Price schmiegte sich in die hügelige Landschaft; die alten Backsteingebäude mit den weißen Säulen datierten aus dem frühen 19. Jahrhundert. Gewundene Wege durchschnitten die saftig grünen, sorgfältig gepflegten Rasenflächen auf dem College-Gelände.
Eine Gruppe adretter Studentinnen schritt auf die ältesten vier Gebäude zu, die in einem Rechteck um den Hauptplatz herum angeordnet waren. Die jungen Frauen sahen fröhlich aus, und eine lachte und warf die Haare nach hinten.
Einen Augenblick lang blieb Eva im Auto sitzen und fragte sich, was bei diesem Besuch schon herauskommen konnte.
Den Rucksack über die Schulter geworfen, stieg sie aus und ging los. Ihr Rücken war kerzengerade, der Blick nach vorn gerichtet. Auf dem Weg zu den Hauptgebäuden knirschte Kies unter ihren Füßen. »Es gab mal eine Zeit, da war ich auch so ein Mädchen.«
»Sie, sorglos?« Der neckende Tonfall ließ sie lächeln.
»Nun ja, nicht ganz so.« Und ehe sie sich zurückhalten konnte, sagte sie: »In dem kurzen Jahr, in dem ich hier war, habe ich an neue Chancen geglaubt. Ich dachte, ich könnte mir ein wunderbares Leben aufbauen.«
Garrison überragte sie um fast dreißig Zentimeter, sein Körper verdeckte die Sonne und warf einen Schatten auf Eva. »Das können Sie immer noch.«
»Ich weiß. Und ich werde es tun.«
Der Duft der Buchsbäume stieg ihr in die Nase, als sie an dem alten Gebäude vorbeikamen, das sie früher Ostflügel genannt hatten, und über die quadratische Grünfläche schritten, die zu den Verbindungshäusern führte. Eva gab Garrison einen kurzen geschichtlichen Überblick über das College, selbst verblüfft, dass sie noch so viel wusste. Ihr Haus war das Dritte in der Reihe gewesen, doch sie wusste nicht, was sie jetzt vorfinden würde, nachdem ja das Gebäude von damals durch den Brand zerstört worden war.
Als sie den Hügel erklommen hatten, sah sie zu ihrer Überraschung, dass es durch ein neues Haus ersetzt worden war. Ein strahlend weiß gestrichenes Haus mit einer breiten Veranda davor, komplett mit Schaukelstühlen und großen Pflanzkübeln voller Stiefmütterchen. Auf einem Messingschild neben dem Eingang stand H AUS C ROSS .
»Haus Cross.« Bitterkeit stieg in ihr auf. Ohne Zweifel war dies das Werk von Josiahs Vater.
»Darius Cross hat das Haus zu Ehren seines Sohnes wieder aufgebaut.«
»Wie nett.«
Sie gingen die Eingangstreppe hinauf und hörten Musik, die aus der offenen Haustür drang. Die Sängerin sang immer wieder schmachtend von neuen Chancen. Wie passend, dachte Eva, und trat ein.
Im Eingang blieb sie stehen.
»Alles okay?«
Garrisons ruhige, verlässliche Gegenwart gab ihr Halt. »Alles bestens.«
Sie gingen weiter hinein. Der Eingangsbereich war mit Teppich ausgelegt, die Wände in einem sanften Beige gestrichen. Ein Geräusch auf der Treppe ließ Eva aufmerken. Eine schlanke junge Frau in Jogginghose und einem Price-T-Shirt, die ihr dunkles Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte, kam
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