Das Flüstern der Albträume
nächsten Schritt tun.
Kristen saß im Park und beobachtete die Strömung des sich langsam dahinschlängelnden Potomac River. Eine leichte Frühlingsbrise wehte. Auf den Gehwegen schlenderten Paare, Kinder fuhren auf Fahrrädern vorbei. In der Nähe war Gelächter zu hören.
Eva Rayburns Besuch hatte sie aus der Bahn geworfen, dennoch war sie mehr denn je entschlossen gewesen, nach New York zu fliegen, Alexandria zu verlassen und ein neues Leben zu beginnen. Vor ein paar Stunden hatte sie jedoch auf ihrem Handy ein Anruf erreicht.
»Wollen Sie Ihr Kind sehen?«, hatte eine Stimme gefragt.
Ihr Kind.
»Woher haben Sie diese Nummer?«
Krächzendes Gelächter. »Von Freunden. Wollen Sie etwas über Ihr Baby erfahren?«
»Ich habe kein Baby«, hatte sie gesagt.
»Doch, haben Sie. Nur dass er jetzt kein Baby mehr ist, nicht wahr?«
Stumm hatte sie das Telefon umklammert und weder sprechen noch auflegen können.
»Morgen gegen zwei wird er im Riverside Park sein, falls Sie ihn sehen wollen.«
Die Person am anderen Ende hatte aufgelegt und Kristin fassungslos und verstört zurückgelassen. So sehr sie sich auch wünschte, die Stadt zu verlassen, sie hatte es nicht fertiggebracht, in ihr Flugzeug zu steigen.
Nun saß sie hier auf einer Parkbank und starrte auf das alte, abgegriffene Foto in ihrer Hand. Seit mehr als zehn Jahren trug sie es in der Brieftasche mit sich herum, und den abgenutzten Rändern sah man an, wie oft es herausgezogen worden war.
Kristin fuhr mit den Fingerspitzen über das Gesicht des Neugeborenen.
Sie wäre so viel besser dran gewesen, wenn sie Josiah Cross nie kennengelernt hätte.
In jenem Jahr hatte sie eine Reihe von Fehlentscheidungen getroffen, deren erste darin bestand, dass sie es auf Josiah Cross abgesehen hatte. Er galt als gute Partie, und sie hatte ihn für sich erobern wollen. »Sei vorsichtig mit deinen Wünschen«, hatte ihre Mutter immer gesagt. Nach vier Monaten Beziehung hatte sie gemerkt, dass sie schwanger war. Sie hatte in ihrem Leben eine Menge Dinge gehasst oder abgelehnt, doch ihren Sohn hatte sie von dem Moment an geliebt, in dem sie von seiner Existenz erfuhr. Sie hätte einen Pakt mit dem Teufel geschlossen, um ihn zu retten.
»Unterschreib, Kristen.« Das drängende Flüstern ihrer Mutter klang ihr immer noch in den Ohren. »Unterschreib!«
»Mom, er ist mein Sohn«, hatte sie geschluchzt.
»Dieses Kind wird dein Leben ruinieren, Kristen. Liebes, wir möchten, dass du deinen Abschluss machst, dich gut verheiratest und eine vielversprechende Karriere anstrebst.«
»Viele unverheiratete Frauen bekommen Kinder und ziehen sie groß.« Da Josiah tot war, war sie frei, ihren Sohn allein aufzuziehen.
Ihre Mutter strich ihr sanft übers Haar. »Das ist keine Option für Leute wie uns. Von uns wird mehr erwartet.«
Durch einen Tränenschleier hatte sie zu ihrer Mutter aufgeblickt und gespürt, wie ihr Vater sie vom anderen Ende des Zimmers durchdringend anstarrte. »Er ist dein Enkel.«
»Ich entziehe dir jegliche Unterstützung, wenn du ihn behältst«, sagte ihr Vater. »Unterschreib jetzt.«
Die Mutter hatte schwach gelächelt. »Es ist besser für ihn. Du triffst die richtige Entscheidung.«
Besser für ihn.
Tränen strömten ihr übers Gesicht.
»Kristen.« Die Stimme kam von hinten.
Kristen wischte die Tränen fort und drehte sich um. »Sie haben mich angerufen.«
»Ich habe Nachricht von Ihrem Sohn.«
Kristen stand auf. »Reden Sie.«
»Er ist dort drüben. Kommen Sie mit.«
»Sie haben ihn gefunden?«
»Ja. Ich muss ihn zu seinen Eltern bringen, aber Sie können ihn vorher sehen.«
Oh Gott, wie gern wollte sie ihn einfach nur sehen. Unzählige Nächte hatte sie wach gelegen und sich gefragt, wie er wohl aussah. Ob er ihre Nase hatte. Wie viel von Josiah in ihm steckte. Sie hatte alles dafür getan, dass Josiah keine Rolle im Leben des Jungen spielen würde.
Kristen hatte so viel für die Sicherheit ihres Sohnes getan.
Seit Evas Besuch hatte sie panische Angst, dass die ehemalige Mitstudentin sich an die Einzelheiten des Brandes erinnern würde.
War sie dahintergekommen?
Kristen stand mit wackligen Beinen auf. Das Herz hämmerte in ihrer Brust, und ihre Hände zitterten vor Erregung. Die Sorge wegen ihres Geheimnisses, die Morde, selbst die bevorstehende Hochzeit verblassten, als sie an ihren Sohn dachte.
»Er ist in dem Van dort drüben beim Spielplatz«, sagte der Anrufer.
Kristen blickte zu dem schwarzen Wagen hinüber. »Wie heißt
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