Das Flüstern der Albträume
dem Fernseher hatten sie außer Gefecht gesetzt. Nun, da sie vollständig wach war, bereute sie ernsthaft die Anzahl der Gläser, die sie geleert hatte. »Es ist nur ein verkorkster Magen. Und Kopfschmerzen. Damit werde ich schon fertig.«
Sie riss sich zusammen, setzte sich langsam auf und schwang die Beine seitwärts aus dem Bett. Der Holzboden fühlte sich an ihren Füßen unangenehm an, aber ihr war die Ablenkung willkommen. Kalte Zehen waren immer noch besser als Übelkeit.
Sie befeuchtete sich die Lippen, verließ das Schlafzimmer und ging durch den Flur ihres Hauses, das in einer Seitenstraße der Seminary Road stand, in der Nähe der großen Umgehungsstraße. Das Haus war nach dem Zweiten Weltkrieg erbaut worden, und in allen Räumen gab es verputzte Wände mit Stuckverzierungen. Große Kaminöfen mit Marmorumrandungen dominierten das Wohnzimmer, und überall waren noch die ursprünglichen Holzböden erhalten.
Die Räume waren ordentlich, sauber und aufgeräumt, aber zu behaupten, Angie hätte sich an irgendeiner Art von Verschönerung versucht, wäre übertrieben gewesen. Die Küche war seit dreißig Jahren nicht mehr erneuert worden, aber sie hatte kein Auge für Stoffe und Farben und brachte nicht die Geduld auf, inmitten einer Baustelle zu wohnen. Und da ihr Speiseplan nur aus Toast und Frühstücksflocken bestand, war eine schicke Küche auch nicht so wichtig.
Angie griff in den Kühlschrank, vorbei an Weinflaschen und angebrochenem Käse, und holte eine Flasche Ginger Ale heraus. Sie schraubte sie auf, erfreute sich an dem Zischen und füllte ein sauberes Glas, das sie aus dem Küchenschrank geholt hatte. Sie nippte an dem Ale und genoss das Brennen, während sie gleichzeitig betete, dass die Flüssigkeit in ihrem Magen blieb.
Sie beugte sich über die Spüle und starrte aus dem Küchenfenster in den kleinen Garten, den ein Junge aus der Nachbarschaft gegen Bezahlung für sie in Ordnung hielt. Eine große, hundert Jahre alte Eiche spendete Schutz vor der Sommersonne, verschluckte jedoch so viel Licht und Wasser, dass das Gras darunter verkümmerte. Unter dem Baum standen ein schmiedeeiserner runder Tisch und drei passende Stühle. Für Tisch und Stühle war sie bereit gewesen, ein kleines Vermögen auszugeben, weil sie sich ausgemalt hatte, wie sie dort sonntags gemütlich frühstücken würde. In den letzten zwei Jahren hatte sie genau zwei Mahlzeiten im Schatten der Eiche eingenommen.
Die Arbeit als Strafverteidigerin für die kleine, aber erfolgreiche Kanzlei Wellington und James nahm ihre ganze Zeit in Anspruch. Schon in normalen Jahren hatten Juniorpartner kaum Freizeit, doch das letzte Jahr hatte ihr einen mörderischen Terminplan beschert. Die Verteidigung von Dr. James Dixon, einem angesehenen Schönheitschirurgen, der wegen versuchten Mordes angeklagt gewesen war, hatte ihr Leben vollständig ausgefüllt.
Dixon, der regelmäßig zu Prostituierten ging, war in Verdacht geraten, mehrere vermisste Frauen getötet zu haben, die er für Sex bezahlt haben sollte. Aber es gab keine handfesten Beweise für eine Verbindung zwischen dem Arzt und den vermissten Frauen. Dann war eine Prostituierte, Lulu Swan, aus seinem Hotelzimmer geflohen und hatte geschrien, er habe versucht, sie umzubringen. Damit hatte die Polizei den ersten konkreten Hinweis. Man hatte ihn wegen versuchten Mordes verhaftet. Angie hatte beweisen können, dass die Prostituierte im Zeugenstand bei der Frage nach ihrem Drogenkonsum gelogen hatte. Zum Schluss hatte sie die junge Frau völlig auseinandergenommen. Die Zeugenaussage war hinfällig, und Angie hatte in den Köpfen der Jury so viele berechtigte Zweifel gesät, dass es zu einem Freispruch gekommen war. Jetzt war Dr. James Dixon ein freier Mann. Angie war in ihrem Fach zu einem kleinen Star aufgestiegen und hatte Angebote von größeren Kanzleien erhalten. Sie hatte sich jedoch entschieden, bei Wellington und James zu bleiben.
Als Angie Dixon gefragt hatte, ob er schuldig sei, hatte er das vehement abgestritten. Und obwohl sie Zweifel hatte, übernahm sie den Fall. Sie war Rechtsanwältin geworden, weil sie an das Rechtsprinzip glaubte, dass jedem Angeklagten eine gute Verteidigung zustand. Und sie hatte bei Dixon ihr Bestes gegeben.
Während ihres Jurastudiums hatten ihre Ideale noch geglänzt wie eine nagelneue Münze. Sie hatte sich ausgemalt, wie sie sich für die Rechte der Unterdrückten der Welt einsetzen würde. Doch nachdem sie fünf Jahre lang allzu viele
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