Das Flüstern der Albträume
ungefähr einer halben Stunde. Wahrscheinlich wurden dem Opfer die Sternmale mit einem Brenneisen in die Haut gebrannt. Sie hat eine toxikologische Untersuchung veranlasst, bei der man Drogen feststellen würde, aber es wird Tage oder Wochen dauern, bis sie die Ergebnisse bekommt. Es gibt keine Spuren von Einstichen. Die Zähne sind in gutem Zustand, sie hatte also wahrscheinlich einen Zahnarzt. Neue Brustimplantate und eine Nasenoperation.«
»Haben wir schon Fingerabdrücke?«
»Noch nicht. Aber die Pathologin meinte, wenn wir keine Übereinstimmung bekommen, kann sie nach den Seriennummern der Implantate schauen.«
»Okay.«
»Ich habe die Leiterin des Wohnheims ausfindig gemacht, Sally Walton.«
»Was wissen wir über sie?«
»Nur das, was mir der Mitarbeiter, der Nachtdienst hatte, gesagt hat. Ihm zufolge ist sie zweiundfünfzig Jahre alt und diplomierte Sozialpädagogin. Sie habe vor knapp einem Jahr hier angefangen, vorher habe sie aber schon ein paar andere Heime geleitet. Er sagt, sie geht in ihrer Arbeit auf und ist eine sehr fürsorgliche Person. Die Nachbarn mögen sie sehr.«
»Und wo ist sie?«, fragte Garrison.
»Montagnachts hat sie frei. Ich habe sie gerade erst auf dem Handy erreicht und ihr erzählt, was passiert ist. Sie klang ganz schön durcheinander. Gegen sieben wird sie hier sein.« Malcolm sah auf die Uhr.
»Gut. Ich will sie nach dieser Frau fragen.«
»Du bist immer noch an ihr dran?«
»Sie hat mit all dem zu tun. Da bin ich mir sicher.«
Um sieben Uhr morgens gab Eva es auf, weiterschlafen zu wollen. Sie setzte sich auf und schwang die Beine aus dem Bett. Die Bettfedern quietschten, als sie ihr Gewicht verlagerte. Sie nahm ihre Kleidung vom Fußende des Bettes und rollte ihre Yogamatte aus. Die nächste halbe Stunde verbrachte sie mit einer raschen Abfolge von Sonnengrüßen, bis ihr Körper vor Schweiß glänzte. Die körperliche Verausgabung linderte ihre Anspannung, nicht nur die körperliche, sondern auch die geistige. Yoga hatte sie durch ein Buch in der Gefängnisbücherei entdeckt. Sie hatte angefangen zu üben, zunächst nur auf der Suche nach einem Zeitvertreib. Dabei hatte sie zu einer Praxis gefunden, die ihr seelischen Frieden schenkte und es ihr ermöglichte, die Zeit hinter Gittern zu überstehen.
Auf Zehenspitzen ging sie ins Bad. Sie duschte, zog frische Kleidung an, bürstete ihr Haar und band es zu einem ordentlichen Pferdeschwanz zusammen. Das alles vertrieb die letzten Reste von Müdigkeit und gab ihr ein Gefühl von Kontrolle.
Eva ging die Treppen hinunter in die Küche des Pubs, füllte einen Wasserkessel und stellte ihn auf den Herd. Sie entzündete das Gas und suchte im Kühlschrank nach dem Teebeutel, den sie am Vortag benutzt und anschließend sorgfältig in Plastikfolie gewickelt hatte. Sie hatte festgestellt, dass jeder Beutel für zwei Tassen reichte – wenn sie es darauf anlegte, sogar für drei.
Als der Kessel pfiff, hängte sie den Teebeutel in eine Tasse und goss heißes Wasser darüber.
Als sie gestern Abend mit Bobby hier gesessen hatte, waren Erinnerungen an ihre Schwester wach geworden. Sie hatte Angie seit über zehn Jahren nicht gesehen. Die letzten Worte hatten sie vor Evas Anhörung, die der Urteilsverkündung voranging, miteinander gewechselt. Angie hatte geweint, als der Richter das Urteil verlesen und den Hammer auf den Richtertisch geschlagen hatte. Eva war siebzehn gewesen, Angie einundzwanzig. Angies Augen waren vom Weinen ganz rot gewesen, doch Eva hatte eine seltsame Ruhe verspürt, so als hätte ihre Seele sich über ihren Körper erhoben.
Die Hintertür ging auf und wurde mit einem Knall wieder geschlossen, was Eva schlagartig in die Gegenwart zurückholte. Ein verschlafen aussehender King kam mit einem Sack Kartoffeln in die Küche und hievte ihn auf die Edelstahl-Arbeitsplatte. Die morgendliche Kühle hatte sein hageres Gesicht rosig gefärbt, und unter seiner Redskins-Footballkappe stand sein graues Haar hervor. King war einen Meter zweiundsechzig groß, hatte schmale Schultern und einen flachen Bauch. Er erinnerte Eva mehr an einen Kobold als an einen König.
Die Kälte des morgendlichen Marktgangs hing noch in seiner Lederjacke. »Ich hab dich gehört, als du gestern Abend heimgekommen bist. Es hat wohl mit deiner Schicht nicht geklappt?«
»Das Wohnheim ist abgebrannt.«
»Was?«
Selbst ihr kam die Geschichte merkwürdig vor. »Als ich hinkam, lag das Haus in Schutt und Asche. Ich konnte kaum mehr tun als
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