Das Flüstern der Albträume
morgen geben.«
Garrison händigte ihm seine Visitenkarte aus. »Wenn nicht, besorge ich einen richterlichen Beschluss.«
Die Straße vor dem Hotel war nass und glänzte, offenbar hatte es in der Zwischenzeit geregnet. »Was wetten wir, dass Mr Sicherheitsdienst den Geschäftsführer und die Anwälte sofort anruft?«
»Genau deshalb besorgen wir morgen gleich als Erstes einen Durchsuchungsbeschluss. Ich traue denen kein Stück weit.«
Das Letzte, woran Lenny sich erinnerte, war, wie er in dem Haus an der Route Fifteen gesessen und eine Sitcom im Fernsehen angeschaut hatte. Er hatte ein paar Bier getrunken, trotzdem war er jedes Mal zusammengezuckt, wenn draußen auch nur ein Zweig knackte.
Und dann war es plötzlich schwarz um ihn geworden. Genau so, als hätte jemand ein Fernsehgerät ausgeschaltet. Jetzt war der Fernseher wieder an – Lenny war wach. Doch er war nicht mehr in seinem Versteck. Er befand sich in einer Wohnung, an einen Stuhl gefesselt und mit einem Watteball im Mund, den ein Stück Klebeband an Ort und Stelle hielt. Er zerrte panisch an seinen Fesseln und ruckte mit dem Stuhl hin und her.
»Hat deine Mutter dir nicht beigebracht, dass man nicht stehlen darf?« Die Person, die das sagte, befand sich hinter Lenny. »Das hätte sie besser mal getan.«
Lenny schüttelte den Kopf, er erkannte die Stimme aus jener Nacht. Er schrie, aber die Watte erstickte jeden Laut.
»Hättest du ein anständiges Leben geführt, Lenny, wärst du jetzt nicht hier.« Eine behandschuhte Hand strich ihm von hinten über den Kopf. Die Finger in dem Handschuh fühlten sich seltsam sanft an. »Aber du bist ein böser Junge gewesen, und böse Jungen müssen nun mal bestraft werden.«
Bevor er erneut schreien konnte, fuhr ein Messer durch die Luft und bohrte sich in sein Herz. Mehrere Schläge lang spürte Lenny, wie das Blut durch seinen Körper pulsierte, über sein Hemd floss und auf den Boden tropfte.
Und dann spürte er gar nichts mehr.
10
Mittwoch, 5. April, 6:00 Uhr
Die Morgensonne lugte über den Horizont und tauchte den Friedhof in ein sanftes Rosa. Auf dem Gras glitzerte Tau, und die grauen Grabsteine wirkten gar nicht so abweisend wie sonst.
Seit dem Begräbnis ihrer Mutter mied Eva Friedhöfe, und um diesen hier hatte sie seit ihrer Rückkehr nach Alexandria einen weiten Bogen gemacht. Sie ging etwas vom Gas und passierte die gepflegten Steinsäulen neben der Zufahrt. Dann fuhr sie langsam die Straße entlang und fand den gesuchten Abschnitt. Sie hielt an, stieg aus dem Transporter und ging bis zu der Gruppe von Gräbern, die durch eine Steinmauer von den anderen getrennt war. Auf dem Schild am Eingangstor stand C ROSS.
Diese Grabstätte gehörte der Familie Cross, Josiah und seine Eltern waren hier beerdigt. Eva zitterte, als die morgendliche Kälte ungehindert durch ihre dünne Jeansjacke drang.
Mit flauem Magen stieß sie das Tor auf und trat an das Grab von Darius. Josiahs Vater war einundsechzig Jahre alt geworden. Soweit sie wusste, war seine Gesundheit schon seit längerem angegriffen gewesen, doch die Bosheit hatte ihn am Leben gehalten.
Eva kniete nicht vor dem Grab nieder, und sie entfernte auch nicht das Laub, das sich darauf gesammelt hatte.
»Ich ziehe mein Geständnis zurück«, schrie Eva den großen, massigen Mann an, der vor ihr saß. »Es war falsch. Die Polizei hat mich dazu gedrängt.«
Darius Cross erhob sich von dem Metallstuhl im Besucherraum des Gefängnisses und beugte sich zu ihr hinunter. Er roch nach teurem Aftershave und nach Hass. »Wenn du das tust, wird deine Schwester sterben. Ich lasse sie von jemandem weit wegbringen und das mit ihr machen, was Josiah angeblich mit dir gemacht hat. Und ich verspreche dir, niemand wird ihre Leiche finden.«
Alle Farbe wich aus Evas Gesicht, während sie in Augen starrte, die so finster waren wie die des Teufels. Sie wusste, er würde tun, was er gesagt hatte. Darius Cross stieß keine leeren Drohungen aus. Wenn Eva nicht ins Gefängnis ging, würde Angie etwas zustoßen.
»Du widerlicher Mistkerl«, flüsterte Eva. »Ich hoffe, du verrottest in der Hölle.«
Sie atmete tief und gleichmäßig und bemühte sich, ihren Zorn zu vertreiben. Doch er ließ sie nicht los, sondern ätzte weiter in ihrem Inneren. Unfähig, auch nur noch einen Moment zu verweilen, trat sie an das Grab von Darius’ Frau, Louise Cross. Seit neunzehn Jahren tot. Geliebte Ehefrau und Mutter. Was für eine Sorte Frau heiratete einen Darius Cross? Und gebar ein
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