Das Flüstern der Nacht
hervor und gab es Rojer.
»Wir fanden dies hier in Arricks Gemächern, nachdem er vom Hof verwiesen wurde«, erzählte Janson. »Über die Jongleurgilde ließ ich ihm die Nachricht zukommen, dass ich das Kästchen in Verwahrung genommen hätte, aber dein Meister machte sich nie die Mühe, es abzuholen. Ich gestehe, ich war verblüfft; als Arrick ging, nahm er bis auf die Federn in seiner Matratze alles mit, einschließlich einiger Dinge, die streng genommen nicht ihm gehörten, aber das hier ließ er auf dem Tisch liegen, wo es jeder sehen konnte.«
Rojer öffnete das Kästchen. Darin lag auf einem grünen Samtpolster ein Goldmedaillon an einer schweren, geflochtenen Kette. Das Relief auf dem Medaillon zeigte überkreuzte Speere hinter einem Schild mit Herzog Rhinebecks Wappen: eine Krone aus Blättern, die über einem mit Efeu bewachsenen Thron schwebte.
Rojer erinnerte sich noch gut genug an Arricks Unterricht in Heraldik, um das Medaillon auf Anhieb zu erkennen; es war die Herzogliche Angieranische Tapferkeitsmedaille. Die höchste Auszeichnung, die der Herzog zu vergeben hatte. Verblüfft starrte Rojer sie an. Was hatte Arrick geleistet, um diesen Orden zu verdienen, und wieso ließ er ihn zurück? Mit dem Besitz diese Medaille war nicht nur eine große Ehre verbunden, sie stellte an sich schon ein Vermögen dar. In dem an Metallen armen Angiers war allein die geflochtene Kette einen Haufen Klats wert, und das Gold …
»Seine Gnaden verlieh Arrick die Medaille für die Tapferkeit, die er beim Fall der Siedlung Flussbrücke bewiesen hatte«, erklärte Janson, als habe er erraten, was in Rojers Kopf vorging. »Es hätte schon genügt, wenn er nur sich selbst gerettet und zurückgekommen wäre, um dem Herzog die Tragödie zu melden. Aber den Horclingen zu trotzen und außerdem noch dich in Sicherheit zu bringen, einen Knaben von nur drei Sommern, der
allein weder weglaufen noch sich hätte verstecken können …« Er wiegte den Kopf hin und her.
Rojer fühlte sich als hätte der Minister ihm einen Schlag verpasst. »Ich weiß auch nicht, warum er sie nicht mitgenommen hat«, erwiderte er mit hohler Stimme und schluckte krampfhaft an dem Kloß in seiner Kehle. »Danke, dass Ihr sie sicher aufbewahrt habt.« Er klappte das Kästchen wieder zu und steckte es in die bunte Tasche, die er an einem Riemen über der Schulter trug.
»Nun ja«, meinte Janson, als klarwurde, dass Rojer zu diesem Thema nichts mehr zu sagen hatte. Er richtete den Blick auf den Tätowierten Mann. »Wenn es dir recht ist, Flinn Holzfäller, kann es jetzt losgehen. Seine Gnaden ist bereit, deine Abordnung zu empfangen.«
»Aber Leesha …«, protestierte Rojer.
Der Minister schürzte die Lippen. »Seine Gnaden empfängt keine Frauen in seinem Thronsaal. Ich versichere dir, Meisterin Leesha ist bei der Herzoginmutter und ihren Hofdamen gut aufgehoben. Du kannst ihr hinterher von der Audienz berichten, wenn Seine Gnaden euch entlassen hat.«
Der Tätowierte Mann legte die Stirn in Falten und starrte den Minister an. Unter dem Blick dieser harten Augen wirkte der schmächtige Janson wie versteinert; nervös schaute er zu den an der Tür postierten Wachen.
»Also gut«, gab der Tätowierte Mann schließlich nach. »Führt uns bitte zum Herzog.«
Janson unterdrückte einen Seufzer der Erleichterung und verbeugte sich. »Hier entlang, bitte.«
Für einen Angieraner war Herzog Rhinebeck groß gewachsen, trotzdem war er immer noch kleiner als die meisten Leute aus dem
Tal des Erlösers. Er hatte eine massige Statur, und nun, mit Mitte fünfzig, hatten sich die Muskeln seiner Jugend in Fett verwandelt. Zu einem smaragdgrünen, mit Soßenflecken beschmutzten Wams trug er braune Beinlinge; beide Kleidungsstücke bestanden aus erlesenster krasianischer Seide. Auf seinem braunen, mit grauen Strähnen durchsetzten Haar saß die angieranische Krone aus lackiertem Holz, aber seine Finger und der Hals waren überladen mit Ringen und Ketten aus Milneser Gold.
Zur Rechten des Herzogs saß auf einem niedrigeren Podest sein Bruder, Kronprinz Mickael. Er war fast so alt wie der Herzog, wenn auch ein wenig robuster; auch Prinz Mickael trug prachtvolle Gewänder, und ein Goldreif hielt sein Haar zusammen. An der linken Seite des Herzogs hatte der Hirte Pether, Rhinebecks mittlerer Bruder, Platz genommen. Der Hirte war sogar noch dicker als Rhinebeck, obwohl seine schlichte braune Robe und der kahlrasierte Kopf Entsagung und Verzicht zum Ausdruck bringen
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