Das Flüstern der Nacht
Zunge. »Eine Frau als Stadtsprecherin? Solche Anstößigkeiten kann man sich vielleicht in Miln herausnehmen, aber in Angiers weiß man, was sich schickt. Frauen sind nicht dazu bestimmt, Staatsangelegenheiten zu regeln.« Die Herzoginmutter ließ Jansons Arm los, hängte
sich stattdessen bei Leesha ein und zog sie resolut zur Tür, obwohl sie so tat, als müsse sie sich auf sie stützen.
»Sollen die Männer sich mit Schriftstücken und Bekanntmachungen befassen«, bestimmte Araine. »Wir unterhalten uns über weibliche Belange.«
Leesha wunderte sich ein wenig, wie kräftig die Frau war. Sie war keineswegs so zerbrechlich, wie es den Anschein hatte. Aber sie konnte sich nicht mit der Vorstellung anfreunden, mit einer Gruppe von verwöhnten Frauen zusammenzusitzen und belangloses Zeug über das Wetter und die neueste Mode zu plappern, während die Männer über das Schicksal des Tales entschieden.
Als er merkte, dass sie sich dagegen sträubte, aus dem Zimmer bugsiert zu werden, beugte sich Janson zu Leesha hinüber. »Es wäre höchst unklug, die Herzoginmutter vor den Kopf zu stoßen«, raunte er ihr zu. »Gib ihr erst einmal nach. Es wird noch eine ganze Weile dauern, bis der Herzog die anderen vorlässt, und sollte deine Anwesenheit erforderlich sein, komme ich dich holen.«
Leesha sah in sein ausdrucksloses Gesicht und runzelte die Stirn. Da sie die Herrscherfamilie auf gar keinen Fall verärgern wollte, ließ sie es widerwillig geschehen, dass die Herzoginmutter sie mitnahm.
»Der Frauentrakt liegt in dieser Richtung, meine Liebe«, erklärte Araine und führte Leesha durch einen langen, verschwenderisch ausgestatteten Korridor. Mit Ausnahme der Schatzkammer des Tätowierten Mannes hatte Leesha noch nie eine derart überwältigende Prachtentfaltung gesehen wie hier im herzoglichen Palast. In ihrer Jugend war ihr Vater der reichste Mann im Tal der Holzfäller gewesen, aber verglichen mit dem hier zur Schau gestellten Pomp wirkte Ernys Besitz geradezu kümmerlich, wie Reste, die nach einem opulenten Festmahl übrig geblieben sind und dann
einem Hund zum Fraß vorgeworfen werden. Flauschige Teppiche, in die lebhafte Muster eingewebt waren, dämpften und umschmeichelten jeden ihrer Schritte; Statuen auf Marmorsockeln säumten die Wände, an denen herrliche Gobelins hingen. Die Decke war golden bemalt und glitzerte im Licht der Kerzenleuchter.
Überall im Herzogtum litten Rizoner an Hunger, doch konnte die im Luxus schwelgende Herrscherfamilie überhaupt verstehen, was das bedeutete? Leesha fühlte sich an ihre Mutter erinnert, die auch immer zuerst an ihr eigenes Wohlergehen dachte und sich nur um Bedürftige kümmerte, wenn jemand sie dabei sah.
Araines schlurfende Schritte wurden zunehmend forscher, während die alte Herzoginmutter Leesha durch den weitläufigen Palast lotste, wie ein Mann eine Frau bei einem Tanz führen würde. Wonda trottete stumm hinter ihnen her, bis sie durch eine letzte Tür gingen und Araine sich zu ihr umdrehte.
»Sei so lieb und schließe die Tür, bist ein braves Mädchen«, sagte sie. Wonda tat, worum sie gebeten wurde, und zog die massive Eichentür mit einem Klicken ins Schloss.
»Na schön, und nun lass dich mal ansehen.« Araine ließ Leeshas Arm los und versetzte ihr gleichzeitig einen Schubs, der sie um die eigene Achse wirbelte, damit die Herzoginmutter sie in Augenschein nehmen konnte.
Mit leicht gespitzten Lippen musterte Araine sie von oben bis unten. »Du bist also die junge Schülerin, auf die Bruna so stolz war.« Sie klang nicht sonderlich beeindruckt. »Wie viele Sommer hast du gesehen, Mädchen? Fünfundzwanzig?«
»Achtundzwanzig«, korrigierte Leesha.
Araine schnaubte. »Bruna pflegte zu sagen, keine Kräutersammlerin unter fünfzig sei auch nur zwei Klats wert.«
»Ihr kanntet Meisterin Bruna, Euer Gnaden?«, fragte Leesha verblüfft.
Araine gab ein meckerndes Lachen von sich. »Ob ich sie kannte? Die alte Hexe hat zwei Prinzen aus meinem Schoß gezogen,
also darf ich wohl behaupten, dass ich sie gekannt habe. Pether kam vor fast fünfzig Jahren auf die Welt, und damals war Bruna so alt wie ich heute bin. Thamos war zehn Jahre später fällig, ein riesiges Baby, wie seine Brüder, aber mittlerweile war ich nicht mehr so jung wie bei deren Geburt und brauchte eine Helferin, die mehr wusste als eine einfache Hebamme. Zu der Zeit war Bruna schon über achtzig und zögerte, das Tal zu verlassen, obwohl ich ihr meinen Herold schickte, der sie auf Knien
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