Das Flüstern der Nacht
keine Lebensmittel erübrigen könnt, dann schickt Kleidung. Oder Wolle aus Schäfertal, damit wir selbst Sachen herstellen können. Jetzt ist doch gerade die Zeit der Schafschur, nicht wahr?«
Araine dachte einen Moment lang nach. »Ich lasse ein paar Karren mit Rohwolle schicken, und zusätzlich wird eine Herde mit hundert Schafen in euer Tal getrieben.«
»Zweihundert«, verlangte Leesha. »Mindestens die Hälfte der Tiere sollte im richtigen Zuchtalter sein, und außerdem noch hundert Milchkühe.«
Araine zog die Stirn in Falten, aber sie nickte. »Einverstanden.«
»Ferner benötigen wir Saatgut aus Bauerngarten und Waldrand«, fügte Leesha hinzu. »Der Zeitpunkt für eine Aussaat könnte nicht günstiger sein, genügend Arbeitskräfte, um Land zu roden und Äcker anzulegen, sind vorhanden. Das Einzige, was uns fehlt, ist eine ausreichende Menge Sämereien.«
»Damit wäre schon viel gewonnen«, pflichtete Araine ihr bei. »Ihr bekommt so viel, wie wir entbehren können.«
»Woher wollt Ihr wissen, dass die Männer diesen Forderungen zustimmen werden?«, fragte Leesha.
Araine lachte meckernd. »Ohne Janson könnten meine Söhne sich nicht die Schuhe zubinden, und Janson ist mir unterstellt. Sie werden nicht nur die Entscheidungen treffen, zu denen er ihnen rät, sie werden noch ins Grab gehen im Glauben, das alles seien ihre ureigensten Ideen gewesen.«
Leesha hegte immer noch Zweifel, aber die Herzoginmutter zuckte nur mit den Schultern. »Warte nur ab, bis die Männer von der Audienz kommen und erzählen, was sie ›ausgehandelt‹ haben. Dann wirst du ja sehen, ob ich Recht behalte oder nicht. Aber bis es so weit ist, lass uns in aller Ruhe unseren Tee austrinken.«
»Mit welchem Anliegen trittst du vor den Efeuthron?«, fragte Rhinebeck.
»Der Vormarsch der Krasianer bedroht uns alle«, antwortete der Tätowierte Mann. »Flüchtlinge überschwemmen das Umland, es sind mehr Menschen als die Dörfer bequem aufnehmen können, und wenn sie weiter vorrücken nach Lakton …«
»Das ist lächerlich«, fiel Prinz Mickael ihm ins Wort. »Zeig wenigstens dein Gesicht, wenn du mit dem Herzog sprichst.«
»Vergebung, Hoheit«, sagte der Tätowierte Mann und verbeugte sich leicht. Er zog seine Kapuze zurück, und in dem Sonnenlicht, das durch die Fenster strömte, schienen die eintätowierten Siegel über seine Haut zu kriechen wie lebendige Wesen. Thamos und Janson, die diesen Anblick bereits kannten, verzogen keine Miene, doch die anderen Prinzen konnten ihren Schreck nicht ganz verbergen.
»Beim Schöpfer«, wisperte Pether und zeichnete mit dem Finger ein Siegel in die Luft.
»Da du keinen Namen hast, sollen wir dich wohl mit ›Lord der Siegel‹ anreden, wie?«, fragte Mickael, dessen entgeisterter Gesichtsausdruck von einem höhnischen Grinsen abgelöst wurde.
Der Tätowierte Mann schüttelte den Kopf und lächelte mit schmalen Lippen. »Ich bin nur ein ganz gewöhnlicher Bauer, Hoheit, ohne irgendeinen Titel.«
Mickael stieß ein Schnauben aus. »Auch wenn du von niederer Geburt bist, kann ich kaum glauben, dass ein Mann, der vorgibt der Erlöser zu sein, sich nicht genauso über das gemeine Volk erhaben fühlt wie jeder Lord aus adligem Geblüt. Oder fühlst du dich allem Weltlichen überlegen?«
»Ich bin nicht der Erlöser, Hoheit«, widersprach der Tätowierte Mann. »Und ich habe es auch nie behauptet.«
»Dein Fürsorger im Tal der Holzfäller vertritt aber eine andere Meinung. Das hat er uns selbst geschrieben«, warf der Hirte Pether ein und wedelte mit einem Bündel Papier in der Luft herum.
»Er ist nicht mein Fürsorger«, widersprach der Tätowierte Mann ärgerlich. »Und er kann glauben, was er will.«
»Nein, das kann er eben nicht«, warf Janson ein. »Wenn er den Fürsorgern des Schöpfers in Angiers angehört, schuldet er Seiner Gnaden, dem Hirten, sowie dem Kuratorium der Fürsorger Loyalität. Sollte sich herausstellen, dass er ketzerische Ideen verbreitet …«
»Ihr habt vollkommen Recht, Janson«, lobte Pether. »Wir werden der Sache nachgehen müssen.«
»Vielleicht könntet Ihr das Kuratorium der Fürsorger einberufen und Fürsorger Jona befragen, Euer Gnaden«, schlug Janson vor.
»Hört, hört«, meldete sich Mickael. Er sah seinen Bruder an. »Das solltest du unverzüglich in die Wege leiten, Bruder.« Pether nickte.
»Euer ehemaliger Mentor, Fürsorger Hayes, wäre die geeignete Person, um ihn im Tal zu vertreten und sich um die Flüchtlinge zu kümmern,
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