Das Flüstern der Nacht
wissen, wie es geht.«
»Dann bleibt Fürsorger Jona, wo er ist«, bestimmte Leesha, setzte ihre Teetasse ab und sah der Herzoginmutter unerschrocken in die Augen. »Es sei denn, Ihr lasst Eure Holzsoldaten gegen Männer kämpfen, die tagsüber Bäume fällen und bei Nacht mit ihren Äxten auf Baumdämonen einschlagen.«
Araine zog die Augenbrauen hoch und ihre Nasenflügel bebten. Doch der gelassene Gesichtsausdruck kehrte so schnell wieder zurück, dass Leesha schon glaubte, sie habe sich dieses Aufblitzen
von Groll nur eingebildet. Araine heftete ihren Blick auf Wonda.
»Ist das wahr, Mädchen?«, fragte sie. »Würdest du die Waffen gegen deinen Herzog erheben, wenn die Holzsoldaten kämen, um euren Fürsorger abzuholen?«
»Wenn Leesha mir sagt, ich soll kämpfen, dann kämpfe ich … egal, gegen wen«, gab Wonda zurück. Zum ersten Mal seit ihrer Begegnung mit der winzigen Herzoginmutter richtete sie sich auf ihrem Stuhl zu ihrer vollen Größe auf.
Mit ihren erst fünfzehn Sommern überragte Wonda die meisten Männer im Tal des Erlösers, obwohl die dort ansässigen Kerle bekanntermaßen zu den größten im gesamten Herzogtum zählten. Verglichen mit dem Mädchen wirkte die Herzoginmutter wie eine Zwergin, doch Araine wirkte nicht sonderlich beeindruckt, höchstens amüsiert. Sie nickte Wonda zu, wie um ihr zu signalisieren, wieder ihre gekrümmte Haltung einzunehmen, dann sah sie Leesha an und klopfte nachdenklich mit einem Fingernagel gegen ihre zierliche Teetasse.
»Also gut«, gab sie schließlich nach. »Ich verbürge mich persönlich für Jonas Sicherheit und seine Rückkehr ins Tal. Obwohl es sein könnte, dass er seine Robe verliert.«
»Danke, Euer Gnaden«, erwiderte Leesha und neigte den Kopf zum Zeichen, dass sie den Bedingungen zustimmte.
Mit einem Lächeln hob Araine ihre Teetasse. »Mir scheint, du hast Brunas Erbe zu Recht angetreten.« Leesha erwiderte ihr Lächeln und sie tranken gleichzeitig ihren Tee.
»Der Tätowierte Mann«, fuhr Araine nach kurzem Schweigen fort, »wird allein nach Miln reisen, Euchor seine Geschichte über die Krasianer vortragen und in unserem Namen um Hilfe bitten.«
»Warum der Tätowierte Mann und nicht Euer Herold?«, wunderte sich Leesha.
Araine rümpfte die Nase. »Jansons gefallsüchtiger, selbstverliebter Neffe? Euchor würde den Bengel bei lebendigem Leib auffressen. Falls du es noch nicht weißt, Euchor und mein Sohn hassen einander.«
Leesha runzelte nachdenklich die Stirn, aber die Herzogin winkte ab. »Versuche gar nicht erst, dich da einzumischen, Mädchen. Der Efeuthron und der Metallene Thron lagen schon miteinander im Streit, lange bevor die derzeitigen Herrscher ihre fetten Hintern auf ihnen platzierten, und daran wird sich auch in absehbarer Zeit nichts ändern. Das ist nun mal die Art von Männern, mit Rivalen ihre Kräfte zu messen.«
»Trotzdem erklärt das nicht, warum der Tätowierte Mann zu Euchor geschickt wird und nicht ein Herzoglicher Kurier«, hakte Leesha nach. »Ich versichere Euch, selbst wenn er diesem Anliegen zustimmt und nach Miln reist - und Ihr werdet feststellen, dass er schwerer zu beeinflussen ist als Ihr denkt -, hat er seine eigenen Vorstellungen davon, wie die Dinge ablaufen sollen und schert sich keinen Deut um Eure Pläne.«
»Das ist mir sehr wohl bewusst«, gab Araine zu, »und genau deshalb möchte ich diesen Mann so weit weg wie möglich von meiner Stadt wissen. Ob er es beabsichtigt oder nicht, allein seine Anwesenheit wird die Menschen zu einem fanatischen Eifer anstacheln, und an so etwas kann ein Staat zugrunde gehen. Soll er doch in Miln einen Aufruhr anzetteln; Euchor geht dann vielleicht auf alles ein, was wir wollen, nur um ihn loszuwerden.«
»Und was genau wollen ›wir‹?«, fragte Leesha, wobei sie das letzte Wort ironisch betonte.
Araine blinzelte sie an, und Leesha wusste nicht, ob sie sich über ihre Dreistigkeit ärgerte oder sie unterhaltsam fand. »Ein Bündnis gegen die Krasianer, natürlich«, erwiderte die Herzoginmutter schließlich. »Es sind zwei völlig verschiedene Dinge, ob
man sich wegen ein paar Fuhren Holz und Mineralien zankt, oder ob Schäferhunde sich gegenseitig an die Kehle gehen, während Wölfe den Schafspferch umzingeln.«
Leesha hätte ihr gern widersprochen, aber sie gestand sich ein, dass die Herzoginmutter Recht hatte. Einerseits fühlte sie sich ungemein sicher, wenn Arlen in ihrer Nähe war, und sie wollte, dass er für immer im Tal blieb. Doch
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