Das Flüstern der Nacht
ein wärmendes Feuer und einen kleinen Schreibtisch. Leesha musste selbst noch jede Menge Briefe schreiben, sie korrespondierte mit Kräutersammlerinnen im gesamten Herzogtum, von denen viele noch nicht wussten, dass Bruna im vergangenen Jahr gestorben war. Wie das Zerkleinern von Kräutern, so gehörte auch die Pflege von alten Freundschaften zu den Dingen, für die Leesha kaum noch Zeit aufbrachte, seit sie und Rojer den Tätowierten Mann getroffen hatten.
Doch als sie sich der Stube näherte, hörte sie das Geräusch von zersplitterndem Glas. Als sie das Zimmer betrat, sah sie zu ihrer maßlosen Verblüffung Rojer hinter Jizells Schreibtisch sitzen, vor sich eine geöffnete Karaffe Branntwein. Das Feuer zischte und knackte wütend, und auf den Steinen vor dem Kamin lagen Scherben in einer Pfütze.
»Willst du das ganze Haus abfackeln?!«, schrie Leesha, zog einen Lappen aus ihrer Schürze und beeilte sich, den Alkohol aufzuwischen, bevor die Flammen darauf übergreifen konnten.
Ohne auf sie zu achten, griff Rojer nach einem anderen Glas und füllte es.
»Meisterin Jizell wird nicht erfreut sein, dass du ihre Gläser zerbrichst, Rojer!«, tadelte Leesha.
Rojer griff in die bunte Tasche, die er stets mit sich herumschleppte. Sie war alt, fleckig und ramponiert, trotzdem bezeichnete Rojer sie nur als seine »Magische Tasche«. Und tatsächlich konnte er jederzeit eine Hand hineinstecken und etwas zutage fördern, das selbst das misstrauischste Publikum zum Staunen brachte.
Er warf eine Handvoll der antiken Goldmünzen, die der Tätowierte Mann ihm geschenkt hatte, auf den Schreibtisch. Klappernd
und klirrend hüpften sie über die Fläche, und die Hälfte davon kullerte zu Boden. »Jetzt kann sie sich hundert neue Gläser kaufen.«
»Rojer, was ist los mit dir?«, fragte Leesha. »Wenn du immer noch böse bist, weil ich dich vorhin weggeschickt habe …«
Rojer wedelte verächtlich mit der Hand und genehmigte sich einen tiefen Zug aus dem Glas. Leesha sah ihm an, dass er bereits sturzbetrunken war. »Es ist mir egal, wie du und Arlen euch im Stall verabschiedet habt.«
Leesha kniff ärgerlich die Lippen zusammen. »Ich hab ihn nicht gevögelt, wenn du das meinst.«
Rojer zuckte die Achseln. »Von mir aus kannst du dich ruhig von ihm flachlegen lassen. Das geht mich nichts an.«
»Was ist es dann?« Leesha sprach mit sanfter Stimme und ging zu ihm rüber. Rojer sah sie kurz an, dann griff er wieder in seine Magische Tasche und holte ein schmales Holzkästchen heraus. Als er es öffnete, blitzte darin ein schweres Goldmedaillon.
»Das hat Minister Janson mir gegeben«, erklärte er. »Es ist eine Herzogliche Tapferkeitsmedaille. Der Herzog verlieh sie Arrick, weil er mich in der Nacht, als Flussbrücke zerstört wurde, gerettet hat. Von dieser Auszeichnung habe ich nie etwas gewusst.«
»Du vermisst ihn«, meinte Leesha. »Das ist nur natürlich. Er hat dir das Leben gerettet.«
»Den Horc hat er getan!«, brüllte Rojer, griff nach der Kette und schleuderte das Medaillon durch den Raum. Mit einem lauten Knall prallte es von der Wand ab und landete scheppernd auf dem Boden.
Leesha legte ihre Hände auf Rojers Schultern, doch sein Mund verzerrte sich, und einen Moment lang glaubte sie, er würde sie schlagen. »Rojer, was ist passiert?«, fragte sie leise.
Rojer entzog sich ihrem Griff und wandte sich ab. Er schwieg so lange, dass sie schon gar nicht mehr mit einer Antwort rechnete, doch dann begann er zu sprechen:
»Eine lange Zeit dachte ich, es sei nur ein Alptraum.« Seine Stimme klang heiser und gepresst, als könne sie jeden Augenblick brechen. »Meine Mutter und ich tanzten, während Arrick auf der Fiedel spielte. Mein Vater und ein Kurier namens Geral klatschten mit den Händen den Takt. Es war außerhalb der Saison, und außer uns befand sich in dieser Nacht niemand im Gasthof.«
Er holte tief Luft und schluckte ein paarmal. »Auf einmal ertönte ein fürchterliches Krachen, als etwas gegen die Tür schlug. Ich erinnere mich noch, dass mein Vater sich an diesem Tag mit Meister Piter, dem Bannzeichner, gestritten hatte, weil er von ihm verlangte, er solle unverzüglich die Siegel an unserem Haus ausbessern. Aber er und Geral meinten, es bestünde kein Grund zur Sorge.« Er lachte bitter und zog die Nase hoch. »Offenbar hatte mein Vater doch Recht, und Piter und Geral hatten sich geirrt, denn als wir uns alle erschrocken zur Tür drehten, brach ein Felsendämon hindurch.«
»Oh, Rojer!«,
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