Das Flüstern der Nacht
dich«, führte Leesha den Gedanken zu Ende. Sie schüttelte den Kopf. »Dieses Gefühl kenne ich sehr gut.«
Sie drehte das Medaillon um und sah die glatte Rückseite. »Rojer, wie hießen deine Eltern?«
»Kally und Jessum. Warum fragst du?«
Sie legte das Medaillon auf den Schreibtisch, und aus einer der vielen Taschen in ihrer Schürze holte sie ein kleines Lederbündel,
das ihre Bannzeichner-Instrumente enthielt, mit denen sie Siegel in eine harte Oberfläche einritzen konnte. »Wenn diese Medaille dazu bestimmt ist, deine Rettung vor dem Massaker in Flussbrücke zu ehren, dann sollte diese Ehrung allen Beteiligten zukommen.«
In schöner, flüssiger Schrift ritzte sie KALLY, JESSUM und GERAL in das weiche Gold. Als sie damit fertig war, funkelten die Namen im Schein des Feuers. Während Rojer sie mit großen Augen betrachtete, nahm Leesha die schwere Kette und streifte sie ihm über den Kopf. »Wenn du das siehst, darfst du nicht daran denken, wie Arrick versagt hat. Du musst dich an die Menschen erinnern, deren Opfermut nicht in Liedern besungen wird.«
Rojer berührte das Medaillon, und Tränen tropften auf das Gold. »Ich werde sie nie wieder aus den Händen geben.«
Leesha legte eine Hand auf seine Schulter. »Wenn du vor der Wahl stündest, ob du diesen Orden oder einen Menschen retten sollst, dann würdest du leichten Herzens auf die Medaille verzichten. Du bist nicht Arrick, Rojer. Du hast einen völlig anderen Charakter.«
Rojer seufzte. »Es wird höchste Zeit, dass ich das unter Beweis stelle.« Er stemmte sich in die Höhe, doch er schwankte so sehr, dass er eine Hand auf die Schreibtischplatte legen musste, um das Gleichgewicht zu halten.
»Morgen früh«, ergänzte er.
»Behalte einen kühlen Kopf und überlass das Reden mir«, wies Rojer Gared an, als sie das Gildehaus der Jongleure betraten. »Lass dich nicht von den freundlich lächelnden Gesichtern und der bunten Kleidung täuschen. Die Hälfte der Männer hier können dir deine Geldkatze aus der Tasche ziehen, ohne dass du es merkst.«
Sofort legte Gared eine Hand auf seine Tasche.
»Aber festhalten darfst du sie auch nicht«, zischte Rojer ungeduldig. »Auf diese Weise zeigst du nur, wo du sie aufbewahrst.«
»Was soll ich dann tun?«, jammerte Gared.
»Lass deine Hände einfach nur an der Seite herunterbaumeln und gib acht, dass dich keiner anrempelt«, riet Rojer. Gared nickte eifrig und folgte Rojer dicht auf den Fersen, während der durch die Korridore marschierte. Der riesige Holzfäller mit den überkreuzten Äxten auf dem Rücken zog im Gildehaus ein paar Blicke auf sich, ohne jedoch besonderes Aufsehen zu erregen. Die Jongleurgilde war an ungewöhnliche Personen und Auftritte gewöhnt, und die wenigen Gaffer fragten sich vermutlich nur, welche Rolle der große Mann verkörperte und in welchem Stück er mitwirkte.
Dann standen sie vor den Büroräumen des Gildemeisters. »Rojer Achtfinger möchte zu Gildemeister Cholls«, erklärte Rojer dem Empfangssekretär.
Mit einem Ruck schaute der Mann hoch. Es war Daved, Cholls’ Sekretär, dem Rojer bereits früher begegnet war.
»Bist du verrückt, nach so langer Zeit hierherzukommen?«, fragte Daved in einem heiseren Flüstern und spähte den Flur entlang, um nachzusehen, ob jemand sie beobachtete. »Der Gildemeister wird dir die Eier abschneiden!«
»Das lässt er lieber bleiben, sonst ist er seine auch los!«, knurrte Gared. Daved wandte sich ihm zu, sah nur zwei muskulöse, vor der Brust verschränkte Arme und musste den Kopf in den Nacken legen, um Gared in die Augen blicken zu können.
»Wenn du meinst«, krächzte der Sekretär und schluckte nervös. Er stand von seinem winzigen Schreibpult im Flur auf. »Ich sage dem Gildemeister Bescheid, dass ihr auf ihn wartet.« Er trat an die wuchtige Eichentür, hinter der das Büro des Gildemeisters lag, klopfte an und ging nach einer gedämpften Antwort hinein.
»Hier?! Jetzt?!«, brüllte drinnen ein Mann. Im nächsten Moment flog die Tür auf und Gildemeister Cholls wälzte sich hindurch. Statt der bunt zusammengewürfelten Tracht, die fast alle Jongleure bevorzugten, trug der Gildemeister ein Hemd aus feinstem Leinen und eine wollene Weste; der Bart war akkurat gestutzt und das Haar ordentlich mit Öl nach hinten gekämmt. Er glich eher einem Adligen als einem Jongleur. Während Rojer dieser Gedanke kam, fiel ihm ein, dass er den Gildemeister nicht ein einziges Mal bei der Ausübung seiner Kunst gesehen hatte. Er
Weitere Kostenlose Bücher