Das Flüstern der Nacht
Araine. »Als mein Gemahl starb, musste ich meinen Titel als Herzogin abgeben. Ich hatte nicht den geringsten Anspruch auf den Efeuthron, obwohl mein ältester Sohn ein Idiot ist und seine Brüder auch nicht viel besser sind. Der Schöpfer möge verhüten, dass jemals eine Frau auf dem Efeuthron sitzt! Ich war immer ein bisschen eifersüchtig darauf, wie die alte Bruna in aller Öffentlichkeit die Männer herumkommandierte. So etwas wäre hier undenkbar!«
Wieder musterte sie Wonda. »Aber wer weiß, vielleicht tritt auch hier einmal ein Wandel ein. Denk an mich, wenn du der Nacht die Stirn bietest, Mädchen. Kämpfe für mich und für jede Frau in Angiers, und lasse dich von niemandem, egal ob Mann oder Frau, unterdrücken.«
»Ich werd’s mir merken, Euer Gnaden«, versprach Wonda, und dann gelang ihr zum ersten Mal eine korrekte Verbeugung. »Ich schwöre es bei der Sonne.«
Araine gab einen brummenden Laut von sich, tippte nachdenklich an ihr Kinn und schnippte dann mit den Fingern. Sie griff nach der kleinen Silberglocke auf dem Tisch und bimmelte. Prompt erschien eine ihrer Hofdamen. »Meine Schneiderin soll sofort hierherkommen«, befahl Araine. Die Frau knickste, eilte davon, und
kurz darauf betrat eine andere Frau das Zimmer, gefolgt von einem jungen Mädchen, das mit einem ledergebundenen Buch und einem Federkiel ausgerüstet war.
»Dieses Mädchen.« Araine zeigte auf Wonda. »Nimm ihre Maße. Alle.« Die Herzogliche Schneiderin nickte beflissen, zückte eine Reihe von Knotenschnüren und rief die Maße dem Mädchen zu, das sie in das Buch eintrug. Linkisch stand Wonda da, während die Frau sich an ihr zu schaffen machte; sie bewegte Wondas Gliedmaßen wie die einer Puppe und fuhr mit den Händen Körperstellen entlang, die so intim waren, dass Wonda vor Verlegenheit errötete. Die Narben in ihrem Gesicht traten noch deutlicher hervor, als ihre Wangen zu glühen schienen.
Nach Beendigung ihrer Arbeit begab sich die Schneiderin zu Araine und Leesha. »Es ist eine schwierige Aufgabe, Euer Gnaden«, gab sie zu. »Das Mädchen ist flach, wo eine Frau gerundet sein sollte, und breit, wo eine Frau normalerweise schmal ist. Vielleicht ein paar Rüschen am Kleid, um das Auge abzulenken, und ein Fächer, hinter dem sie ihre Narben verstecken kann …«
»Für wie dumm hältst du mich?«, schnauzte Araine die schockierte Schneiderin an. »Ich würde genauso wenig Thamos in ein Kleid stecken wie dieses Mädchen!«
Die Frau wurde blass und machte einen tiefen Knicks. »Verzeiht mir, Euer Gnaden. Ich dachte nur … darf ich fragen, was Euch denn vorschwebt?«
»Das weiß ich selbst noch nicht«, erwiderte die Herzoginmutter. »Aber mir fällt schon etwas ein, da bin ich mir sicher. Du darfst wieder gehen.« Die Schneiderin nickte und wieselte aus dem Zimmer, ihre Gehilfin im Schlepptau.
Araine wandte sich an Leesha, als sie und Wonda sich zum Gehen rüsteten. »Bruna und ich waren gute Freundinnen, meine Liebe, und davon haben wir beide profitiert. Ich hoffe, wir zwei werden uns genauso gut verstehen.«
Leesha nickte. »Das hoffe ich auch.«
18
Gildemeister Cholls
333 NR - Frühling
W arum hast du dieser Reise zugestimmt?«, zischte Rojer, nachdem Janson die Männer in den Salon zurückgeführt und sie dann allein gelassen hatte, um auf Leesha und Wonda zu warten. »Rhinebeck versucht nur, dich loszuwerden, weil er Angst hat, seine Untertanen könnten in Scharen zu dir überlaufen.«
»Das will ich genauso wenig wie er«, entgegnete der Tätowierte Mann. »Es gefällt mir nicht, wenn Leute mich als eine Art Retter sehen. Außerdem möchte ich aus ganz persönlichen Gründen noch einmal nach Miln, und die Chance, in Rhinebecks Auftrag unterwegs zu sein, werde ich doch nicht ungenutzt verstreichen lassen.«
»Du wirst ihnen die Kampfsiegel geben«, folgerte Rojer.
Der Tätowierte Mann nickte. »Und noch mehr.«
»Na schön. Wann brechen wir auf?«
Der Tätowierte Mann zog die Brauen hoch. »Dieses Mal kommst du nicht mit, Rojer. Ich reite allein nach Miln. Ich werde die Nächte durchreiten und ein hohes Tempo vorlegen. Du würdest mich nur behindern. Außerdem musst du deine Schüler unterrichten.«
»Dieser Unterricht ist völlig sinnlos. Was immer ich mit den Horclingen anstelle, es ist keine Technik, die ich anderen vermitteln kann.«
»Dämonenscheiße!«, fluchte der Tätowierte Mann. »So redet einer, der sich vor seiner Verantwortung drücken will. Du unterrichtest erst seit ein paar
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