Das Flüstern der Nacht
höchstwahrscheinlich weibliche Arglist war, die den Zorn der Männer weckte. Die Fleischeslust des Mädchens führte sie auf den Pfad der Gewalt, und dafür muss man sie bestrafen.«
»Zwei Männer kämpfen darum, wem ein Mädchen gehört, und wir geben dem Mädchen die Schuld?«, regte sich Meada auf. »Blödsinn!«
»Das ist kein Blödsinn, Meada Torfstecher. Du bist nur zu voreingenommen, um es zu erkennen, weil die Beschuldigte mit dir verwandt ist!«, herrschte Raddock sie an.
»Bei dir ist es doch genau dasselbe«, schoss Meada zurück. »Komm mir jetzt nicht mit dieser Heuchelei!«
Selia ließ ihren Hammer auf den Tisch niedersausen. »Wenn in Tibbets Bach jemand seine Meinung zu einem Problem nicht äußern darf, weil er aufgrund von Verwandtschaft als befangen gilt, gibt es hier überhaupt niemanden mehr, dem es gestattet ist, den Mund aufzumachen. Jeder hat das Recht zu sprechen. So lautet unser Gesetz.«
»Das Gesetz«, säuselte Raddock. »Ich habe die Gesetze studiert«, er zückte ein in speckiges Leder gebundenes Buch, »und zwar hauptsächlich die, welche die Strafe für einen Mord vorgeben.« Er schlug eine markierte Stelle auf und begann zu lesen:
»Und geschieht ein gar schrecklicher Mord in Tibbets Bach oder seiner Umgebung, so sollt ihr in Stadtplatz einen Pfahl aufstellen und diejenigen, die für diese feige Bluttat verantwortlich sind, daran festbinden, auf dass alle sie sehen können. Gefesselt an diesen Pfahl sollen sie einen Tag der Buße verbringen und die darauffolgende Nacht, ohne Schutz und Siegel, damit ein jeder Zeuge wird, wie der Zorn des Schöpfers über die kommt, die die heiligen Regeln dieses Bundes verletzen.«
»Das kann doch nicht dein Ernst sein!«, schrie Selia.
»Das ist barbarisch!«, fand Meada.
»Das ist das Gesetz!«, trumpfte Raddock auf.
»Sieh doch, Raddock«, ergriff Fürsorger Harral das Wort. »Dieses Gesetz muss fast dreihundert Jahre alt sein.«
»Der Kanon ist noch älter, Fürsorger«, mischte sich Jeorje ein. »Wirst du den als Nächstes anzweifeln? Gerechtigkeit ist nicht dazu da, um Milde walten zu lassen.«
»Wir sind nicht hier, um das Gesetz umzuschreiben«, erklärte Raddock. »Gesetz ist Gesetz, waren das nicht deine eigenen Worte, Selia?«
Selias Nasenflügel bebten, aber sie nickte.
»Wir sind nur hier, um darüber zu befinden, ob das Mädchen für die Morde verantwortlich ist oder nicht.« Raddock knallte Harls blutiges Messer auf den Tisch. »Und ich sage, es ist klar wie der helle Tag, dass die Verantwortung bei ihr liegt.«
»Sie hätte das Messer in die Hand nehmen können, nachdem ein anderer damit getötet hat, Raddock, das weißt du ganz genau«, wandte Fürsorger Harral ein. »Cobie wollte Rennas Hand, und Harl hat ihm zweimal gedroht, er würde ihm die Eier abschneiden, wenn er sich ihr nur näherte.«
Raddock lachte, und es hörte sich an wie ein Kläffen. »Manche Leute könntest du ja davon überzeugen, dass zwei Männer sich gegenseitig mit ein und demselben Messer umbringen könnten. Aber diese Männer wurden nicht nur getötet, sie wurden verstümmelt. Mein Großneffe hat Harl nicht in Stücke gehackt, nachdem er entmannt worden war und einen Messerstich ins Herz bekommen hat.«
»Das leuchtet ein«, meinte Rusco.
Raddock grunzte. »Dann lasst uns abstimmen und die Sache ist erledigt.«
»Ich bin dafür«, erklärte Rusco. »In Stadtplatz hat es noch nie eine so große Menschenmenge gegeben, und ich muss in den Laden zurück.«
»Das Leben eines Mädchens steht auf dem Spiel, und dich interessiert nur, wie viele Kredits du den Leuten abnehmen kannst, die gekommen sind, um zu gaffen?«, fragte Selia.
»Halte mir keine Predigt, Selia«, wehrte sich Rusco. »Ich war derjenige, der das Blut in meinem Hinterzimmer aufwischen musste.«
»Sind alle damit einverstanden, dass jetzt abgestimmt wird?«, meldete sich Jeorje.
» Ich bin die Stadtsprecherin, Jeorje!«, fauchte Selia und zeigte mit dem Hammer auf ihn. Doch schon hoben sich die Hände derjenigen, die für eine Abstimmung waren, und ihr blieb gar nichts anderes übrig als sich zu fügen. Jeorje beantwortete ihren Rüffel mit einem leichten Kopfnicken.
»Na schön«, fuhr Selia fort. »Ich sage, das Mädchen ist unschuldig, bis wir das Gegenteil beweisen können, und bewiesen ist überhaupt nichts.« Sie blickte nach rechts zu Fürsorger Harral, gespannt, wie er sich entscheiden würde.
»Du irrst dich, Selia«, begann Harral. »Etwas ist durchaus bewiesen,
Weitere Kostenlose Bücher