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Das Flüstern der Nacht

Das Flüstern der Nacht

Titel: Das Flüstern der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter V. Brett
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um sich vor Sünde zu schützen.
    Allen voran marschierte Jeorje Südwächter. Sprecher und Fürsorger in einer Person, war Jeorje der älteste Mann in Tibbets Bach, wobei zwischen dem Nächstjüngeren und ihm eine Lücke von zwei Jahrzehnten klaffte. In der Stadt liefen Kinder herum, die noch nicht geboren waren, als er seinen hundertsten Geburtstag feierte. Trotzdem hielt er seinen Rücken immer noch gerade, als er die Prozession anführte, sicheren Schritts und mit hartem Blick. Er bildete einen krassen Gegensatz zu Coran Sumpfig, der ein Vierteljahrhundert jünger war als er und vom Alter arg mitgenommen.
    Aufgrund seiner Jahre und weil das größte Dorf stets geschlossen für ihn stimmte, hätte Jeorje eigentlich Stadtsprecher sein müssen, doch außerhalb von Südwache erhielt er nie auch nur eine einzige Stimme, nicht einmal vom Fürsorger Harral, und daran würde sich auch nichts ändern, dazu war Jeorje Südwächter viel zu verbohrt und erbarmungslos.
    Selia richtete sich zu ihrer vollen Größe auf, und da sie ohnehin groß gewachsen war, gelang es ihr, eine beeindruckende Figur zu machen, als sie ihm zur Begrüßung entgegenging.
    »Sprecherin«, sagte Jeorje und verbiss sich seinen Unmut darüber, einer Frau diesen Rang zuerkennen zu müssen, und einer unverheirateten obendrein.
    »Fürsorger«, erwiderte Selia, ohne sich im mindesten einschüchtern zu lassen. Respektvoll verbeugten sie sich voreinander.

    Jeorjes Gemahlinnen, manche alt und unbeugsam wie er, einige jünger, wobei eine von ihnen hochschwanger war, machten wortlos einen Bogen um sie und gingen ins Haus. Selia wusste, dass sie geradewegs auf die Küche zusteuerten. Die Südwächter nahmen immer die Küche in Beschlag, um sicherzugehen, dass sie ihre spezielle Kost bekamen. Sie aßen nur einfache Speisen ohne Gewürze oder Zucker.
    Selia gab Jeph ein Zeichen. »Geh und hol Rusco aus dem Laden«, bat sie ihn, und Jeph eilte los.
    Selia wurde immer als Sprecherin für Stadtplatz gewählt, doch in den Jahren, in denen sie auch zur Stadtsprecherin berufen wurde, übertrug sie es Rusco Vielfraß, Stadtplatz zu vertreten, damit das Dorf eine unabhängige Stimme behielt, wie das Stadtgesetz es vorschrieb. Das gefiel nur wenigen Leuten, aber Selia wusste, dass der Gemischtwarenladen das Herz dieses Ortes war, und wenn ein Einwohner Gewinn machte, dann profitierten die meisten anderen ebenfalls davon.

    »Kommt alle ins Haus und lasst uns etwas essen«, bestimmte Selia, nachdem die Nachzügler sich ein wenig ausgeruht hatten. »Beim Kaffee beschäftigen wir uns mit den üblichen Ratsangelegenheiten, und wenn die Tassen weggeräumt sind, widmen wir uns dieser letzten Sache.«
    »Wenn es niemandem etwas ausmacht, Sprecherin«, warf Raddock Advokat ein, »dann würde ich gern auf das Essen verzichten, alles andere bis zur nächsten Ratssitzung verschieben und stattdessen sofort den Tod meines Verwandten zur Sprache bringen.«
    »Es macht mir aber etwas aus, Raddock Fischer!«, rief Jeorje Südwächter und stampfte mit seinem polierten schwarzen Gehstock
auf den Boden. »Wir können nicht einfach unsere Sitten und Gebräuche über den Haufen werfen, nur weil jemand gestorben ist. Wir leben in einer Zeit des Fluches, in welcher der Tod uns oft heimsucht. Der Schöpfer bestraft die Sünder, wenn er den rechten Zeitpunkt für gekommen hält. Über das Gerber-Mädchen sprechen wir unser Urteil, nachdem wir uns mit laufenden Anliegen der Stadt befasst haben.«
    Obwohl Selia die Stadtsprecherin war, sprach er mit der Autorität eines Menschen, der keinen Widerspruch gewöhnt ist. Sie tolerierte jedoch diese Herabsetzung - Jeorje geizte nicht mit Seitenhieben gegen sie -, weil er in ihrem Sinne entschied. Je später es wurde, umso unwahrscheinlicher war es, dass das Urteil an Renna noch in dieser Nacht vollstreckt würde, falls man sie mit dem Tode bestrafte.
    »Wir könnten alle einen kleinen Imbiss vertragen«, meinte Fürsorger Harral, obwohl er und Jeorje sich ebenfalls häufig stritten. »Im Kanon steht: Von einem Mann mit leerem Magen ist keine Gerechtigkeit zu erwarten. «
    Raddock blickte in die Runde, in der Hoffnung, bei anderen Sprechern Unterstützung zu finden, doch bis auf Rusco, der stets als Letzter eintraf und als Erster wieder ging, bestanden alle darauf, die Ratsversammlung nach althergebrachter Tradition abzuhalten. Er schaute verdrießlich drein, erhob aber keine Einwände mehr. Garric wollte den Mund aufmachen, aber mit einem energischen

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