Das Flüstern der Nacht
über die Lippen. »Sag mir … wohnt Mery immer noch im Haus des Fürsorgers Ronnell?«
Elissa schüttelte den Kopf. »Dort lebt sie schon seit vielen Jahren nicht mehr. Sie …«
»Es ist nicht so wichtig«, schnitt er ihr das Wort ab, weil er nicht mehr hören wollte. Mery hatte einen anderen gefunden. Das war keine große Überraschung, und er war unvernünftig, wenn er sich durch diese Nachricht gekränkt fühlte.
»Und dieser Junge, Jaik?«, fragte er. »Ich habe auch für ihn einen Brief.«
»Jaik ist kein Junge mehr.« Elissa warf ihm einen durchdringenden Blick zu. »Jetzt ist er ein erwachsener Mann. Er wohnt im Mühlenweg, in der dritten Arbeiterhütte.«
Der Tätowierte Mann nickte. »Dann verabschiede ich mich jetzt von dir, wenn du erlaubst.«
»Was du dort vorfinden wirst, dürfte dir nicht gefallen«, warnte Elissa ihn.
Er sah sie an und versuchte herauszufinden, was sie damit meinte, konnte aber in ihren tränennassen, verquollenen Augen keine hintergründige Botschaft entdecken. Sie wirkte erschöpft und aufrichtig. Er wandte sich zum Gehen.
»Woher kennst du den Namen meiner Tochter?«, fragte Elissa unvermittelt.
Er fühlte sich überrumpelt. »Du hast sie mir vorgestellt, als sie zu dir gelaufen kam.« Kaum war ihm der Satz herausgerutscht, verfluchte er sich im Stillen, denn ehe Elissa den Namen nennen konnte, hatte das Mädchen sie unterbrochen; außerdem hätte er behaupten können, er wüsste ihn von Arlen.
»Ja, sicher, so war das«, räumte Elissa zu seiner Überraschung ein. Er fand, er habe noch einmal Glück gehabt und strebte der Tür zu. Seine Finger schlossen sich um die Klinke, als Elissa ihn noch einmal ansprach.
»Ich habe dich vermisst«, sagte sie leise.
Er hielt inne und kämpfte gegen den Drang an, kehrtzumachen, zu ihr zu laufen, sie in die Arme zu schließen und um Verzeihung zu bitten.
Ohne ein weiteres Wort verließ er den Laden.
Der Tätowierte Mann verfluchte sich in Gedanken, während er die Straße entlangmarschierte. Sie hatte ihn erkannt. Er wusste nicht, woran, aber dass sie ihn wiedererkannt hatte, stand fest, und indem er sich von ihr abwandte, machte er ihr mehr Kummer als mit der Nachricht von seinem Tod. Elissa war wie eine Mutter
zu ihm gewesen, und sein Verhalten musste ihr vorkommen als lehne er ihre Liebe endgültig ab. Aber was hätte er sonst tun können? Ihr zeigen, was er aus sich gemacht hatte? Ihr das Monstrum präsentieren, zu dem ihr Adoptivsohn entartet war?
Nein. Lieber sollte sie denken, er hätte sich von ihr abgewandt. Jede Lüge war besser als die Wahrheit.
Obwohl sie es verdient, die Wahrheit zu kennen?, fragte die bohrende Stimme in seinem Kopf.
Die Frage quälte ihn, deshalb verdrängte er sie aus seinen Gedanken und konzentrierte sich auf den eigentlichen Grund für seine Reise nach Miln. Rhinebecks Botschaft. Er ging zu Herzog Euchors Residenz, aber die Torwächter gaben sich sehr abweisend.
»Seine Gnaden hat keine Zeit, sich mit jedem zerlumpten Fürsorger der Stadt zu befassen«, knurrte einer, als sie ihn in seinem Kapuzengewand sahen.
»Für mich wird er schon Zeit erübrigen«, erklärte der Tätowierte Mann und hielt die Kuriertasche hoch, auf der Rhinebecks Siegel prangte. Die Wachen bekamen große Augen, blieben jedoch misstrauisch.
»Du bist keiner von den herzoglichen Kurieren, die mir bis jetzt begegnet sind«, stellte der erste Wächter fest. »Und ich kenne sie alle.«
»Welcher Kurier läuft schon in der Kutte eines Fürsorgers herum?«, legte der andere nach.
Der Tätowierte Mann, der von seinem Wiedersehen mit Elissa immer noch erschüttert war, hatte keine Nerven mehr für das kleinliche Gehabe irgendwelcher Wachen. »Einer von der Sorte, die dir den Schädel einschlagen wird, wenn du nicht gleich das Tor öffnest und mich anmeldest«, zischte er und streifte seine Kapuze ab.
Beim Anblick des tätowierten Gesichts wichen beide Wächter einen Schritt zurück. Er deutete auf das Tor, und sie hatten es plötzlich so eilig, es aufzumachen, dass sie beinahe übereinanderstolperten. Einer rannte vor zum Palast.
Der Tätowierte Mann streifte sich die Kapuze wieder über und verkniff sich ein Lächeln. Ein Monstrum zu sein hatte gelegentlich auch Vorteile.
Gelassen marschierte er zum Palast; von allen Seiten des Innenhofs zog er Blicke auf sich, und das Geraune der Leute erreichte seine scharfen Ohren. Bald erschien die Kammerfrau des Herzogs, Mutter Jone, in Begleitung des Torwächters, um ihn zu
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