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Das Flüstern der Nacht

Das Flüstern der Nacht

Titel: Das Flüstern der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter V. Brett
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begrüßen. Vor über einem Jahrzehnt hatte der Tätowierte Mann sie zum letzten Mal gesehen; schon damals war sie hager gewesen, nun jedoch wirkte sie beinahe ausgemergelt, und ihre durchscheinende, fahle Haut spannte sich dünn über blaue Venen und Leberflecke. Aber den Rücken hielt sie immer noch gerade, und sie schritt rüstig aus. Ragen hatte sie einmal mit einer ganz besonderen Art von Horcling verglichen, und keine seiner Begegnungen mit ihr hatten ihm Anlass gegeben, an dieser Einschätzung zu zweifeln. Ein paar Schritte hinter ihr folgten diskret zwei Wachposten.
    »Das ist er, Mutter«, erklärte eine der Wachen.
    Jone nickte und entließ den Mann mit einer Handbewegung. Er ging zum Torhaus zurück, aber der Tätowierte Mann bemerkte, dass etliche Leute, die sich im Hof aufhielten, ihm nacheilten, begierig, ein bisschen Klatsch aufzuschnappen.
    »Du bist derjenige, den sie den Tätowierten Mann nennen, ist das richtig?«, fragte Mutter Jone.
    Der Tätowierte Mann nickte. »Ich komme mit einer dringenden Botschaft von Herzog Rhinebeck sowie einem persönlichen Angebot.«
    Daraufhin hob Mutter Jone skeptisch eine Augenbraue. »Viele glauben, du seist der zurückgekehrte Erlöser. Wie kommt es, dass du in Herzog Rhinebecks Diensten stehst?«
    »Ich diene niemandem. Ich übermittle Rhinebecks Botschaft, weil seine Interessen sich zum Teil mit meinen eigenen decken. Der Angriff der Krasianer auf Rizon geht uns alle etwas an.«

    Jone nickte. »Seine Gnaden teilt diese Ansicht, und deshalb wird er dir eine Audienz gewähren …«
    Der Tätowierte Mann nickte und wollte zum Palast weitergehen, doch Jone hob mahnend einen Finger. »Aber erst morgen«, schloss sie.
    Der Tätowierte Mann verzog unwillig das Gesicht. Es war üblich, dass Herzöge Kuriere eine kurze Zeit warten ließen, um ihre Macht zu demonstrieren, aber einen herzoglichen Kurier mit schwerwiegenden Nachrichten einen vollen Tag lang hinzuhalten, obwohl die Sonne noch nicht einmal den Zenit erreicht hatte? Das war unerhört!
    »Vielleicht unterschätzt Ihr die Wichtigkeit meiner Botschaft«, erwiderte er vorsichtig.
    »Und du überschätzt vielleicht deine eigene Bedeutung«, gab Jone zurück. »Südlich des Grenzflusses genießt du einen gewissen Ruf, aber hier befindest du dich im Land des Herzogs Euchor, Licht der Berge und Hüter des Nordlandes. Er empfängt dich, wenn sein Zeitplan es erlaubt, und das wird morgen sein.«
    Euchor ließ ihn zappeln. Indem er ihn abwies, wollte er ihm zeigen, wer hier der Herr war.
    Natürlich konnte er darauf beharren, sofort vorgelassen zu werden. Den Beleidigten mimen und damit drohen, nach Angiers zurückzukehren, oder sich sogar mit Gewalt an den Wachen vorbeidrängen. Niemand konnte ihn daran hindern, in die Residenz einzudringen, wenn er es wirklich wollte.
    Aber er musste Euchor bei Laune halten, er brauchte seine Gunst. Ragen würde das Grimoire mit Kampfsiegeln bekommen, das er Elissa gegeben hatte, und wissen, wie er damit verfahren sollte; doch nur Euchor konnte die benötigten Männer, Waffen und anderen Dinge nach Angiers schaffen, ehe es zu spät war. Es lohnte sich, einen Tag zu warten.
    »Na schön. Morgen früh bei Tagesanbruch warte ich am Tor.« Er wandte sich zum Gehen.

    »In Miln gibt es eine Sperrstunde«, erklärte Jone. »Vor dem Morgengrauen darf niemand auf die Straße hinaus.«
    Der Tätowierte Mann drehte sich wieder um, hob den Kopf und gestattete ihr einen Blick unter seine Kapuze. Als er lächelte, hoben sich seine Zähne weiß von den tätowierten Lippen ab.
    »Dann lasst mich doch von Euren Wachen verhaften«, schlug er vor.
    Er konnte ebenfalls seine Muskeln spielen lassen und Stärke demonstrieren.
    Jone kniff den Mund zu einem schmalen Strich zusammen. Sie ließ sich nicht anmerken, ob seine Erscheinung sie erschreckt hatte. »Bei Tagesanbruch«, gab sie nach, drehte sich um und eilte zum Palast zurück.

    Mehrere Wächter folgten ihm, als er die Residenz des Herzogs verließ. Sie verhielten sich unauffällig und blieben auf Distanz, doch es bestand kein Zweifel daran, dass sie wissen wollten, wo er Quartier genommen hatte, und sich jeden merkten, mit dem er sich unterhielt.
    Aber der Tätowierte Mann hatte viele Jahre lang in Miln gewohnt und kannte die Stadt gut. Er bog um eine Ecke, gelangte in eine Sackgasse, und sobald man ihn nicht mehr sehen konnte, sprang er zehn Fuß in die Höhe, um sich an ein im zweiten Stock liegendes Fenstersims zu klammern. Er schwang sich

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