Das Flüstern der Nacht
Steinmauer, die selbst für ihn zu hoch war, um drüberzuspringen.
Er schloss die Augen und versuchte, seinen Körper durch Willenskraft aufzulösen, so wie er es in Leeshas Hütte getan hatte, aber das Sonnenlicht fiel auf ihn, und die Magie ließ sich nicht herbeirufen. Kurz entschlossen kehrte er um, aber es war zu spät. Er stieß mit Mery zusammen, die gerade in das Gässchen einbog, und beide stürzten zu Boden. Der Tätowierte Mann hatte die Geistesgegenwart, seine Kapuze festzuhalten, als er auf den Pflastersteinen aufschlug. Er spannte sich an und wollte mit einem Satz wieder auf die Füße kommen, aber Mery warf sich über ihn und schloss ihn in die Arme.
»Arlen«, weinte sie, »einmal habe ich dich fortgehen lassen. Ich schwöre beim Schöpfer, ich werde es nie wieder tun.« Sie klammerte sich an ihn und drückte schluchzend ihr Gesicht in sein Gewand; er hielt sie in den Armen und wiegte sie, während sie im Eingang der Gasse auf dem Boden saßen. Obwohl er mit großen und kleinen Dämonen gekämpft hatte, ängstigte ihn diese Umarmung in einer Weise, die er sich nicht erklären konnte.
Nach einer Weile beruhigte sich Mery, schniefte und wischte sich Nase und Augen mit einem Ärmel ab. »Ich muss scheußlich aussehen«, krächzte sie.
»Du bist wunderschön«, widersprach er. Es war die Wahrheit, kein leeres Kompliment.
Sie lachte verlegen, senkte die Lider und schniefte noch einmal. »Ich habe versucht zu warten«, murmelte sie.
»Es ist ja gut.«
Mery schüttelte den Kopf. »Wenn ich geglaubt hätte, dass du zurückkommst, hätte ich eine Ewigkeit gewartet.« Sie blickte zu ihm hoch und lugte in seine Kapuze. »Nie und nimmer hätte ich …«
»Jaik geheiratet?« Es klang vielleicht unfreundlicher als gewollt.
Sie wandte den Blick wieder ab und sah ihn auch nicht an, als beide sich unbeholfen aufrappelten. »Du warst fort«, erklärte sie, »und er war da. In all den Jahren hat er mich gut behandelt, Arlen, aber …« Sie wandte ihm das Gesicht zu und zögerte. »Wenn du mich fragen würdest …«
Eine dumpfe Angst machte sich in ihm breit. Wenn er sie was fragen würde? Ob sie mit ihm gehen wolle? Oder lieber in Miln bleiben, aber Jaik verlassen wolle, um mit ihm zusammen zu sein? Vor seinem inneren Auge blitzten die Visionen aus seinem Traum auf.
»Mery, nein«, bat er. »Sprich es nicht aus.« Für ihn gab es kein Zurück mehr.
Sie wandte sich so abrupt von ihm ab als hätte er sie geschlagen. »Du bist nicht meinetwegen zurückgekommen, nicht wahr?« Sie atmete tief durch, als müsse sie gegen Tränen ankämpfen. »Du wolltest nur vorbeischauen, um deinem alten Freund Jaik Guten Tag zu sagen. Ihm kumpelhaft auf den Rücken zu klopfen und ein bisschen zu plaudern, ehe du dich wieder auf den Weg machst.«
»So ist es nicht, Mery«, entgegnete er. Er stellte sich hinter sie und legte seine Hände auf ihre Schultern. Es war ein seltsames Gefühl; vertraut und fremd zugleich. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal jemanden so berührt hatte. »Ich hatte mir gewünscht, dass du nach meinem Verschwinden jemanden gefunden hättest. Als ich erfuhr, dass es einen anderen gibt, wollte ich dich nicht aufregen.« Er legte eine Pause ein. »Ich hatte nur nicht erwartet, dass es Jaik sein würde.«
Mery drehte sich um und umarmte ihn wieder, aber sie mied seinen Blick. »Er war gut zu mir. Mein Vater hat mit dem Baron gesprochen, der die Mühle besitzt, und sie machten ihn zum Aufseher. Ich war auf der Mütterschule, um die Schreibarbeiten übernehmen zu können, so dass wir uns dieses Haus leisten konnten.«
»Jaik ist ein anständiger Mann«, pflichtete er ihr bei.
Sie sah zu ihm hoch. »Arlen, warum verbirgst du immer noch dein Gesicht?«
Dieses Mal war er es, der sich abwandte. Einen Moment lang hatte er es gewagt, zu vergessen. »Es gehört jetzt der Nacht. Du wirst es gar nicht sehen wollen.«
»Unsinn«, widersprach sie und griff nach seiner Kapuze. »Nach so langer Zeit bist du noch am Leben. Denkst du, es stört mich, wenn du Narben davongetragen hast?«
Er fuhr heftig zurück und wehrte ihre Hand ab. »So einfach ist das nicht.«
»Arlen«, mahnte sie und stemmte die Hände in die Hüften, wie sie es früher getan hatte, wenn für sie der Spaß vorbei war, »seit du Miln verlassen hast, ohne mir ein einziges Wort zu sagen, sind acht Jahre vergangen. Jetzt hab bitte den Mut, mir dein Gesicht zu zeigen; das ist wohl das mindeste, was ich von dir verlangen
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