Das Flüstern der Nacht
hinauf, und von diesem Hochsitz aus fiel es ihm leicht, mit einem Satz die Gasse zu überqueren und auf einem Sims im dritten Geschoss zu landen. Von dort aus hechtete er auf das Dach eines gegenüberliegenden Hauses. Über den Dachfirst spähte er nach unten und beobachtete die Wachen, die geduldig ausharren wollten, bis er erkennen würde, dass er in eine Sackgasse gelaufen war, und er wieder herauskäme. Bald wären sie das Warten leid und einer würde hineingehen,
um nachzuforschen. Doch bis dahin wäre er längst verschwunden.
Als er sich dem dritten Haus im Mühlenweg näherte, dachte der Tätowierte Mann über Elissas vage Bemerkung über Jaik nach. Ging es ihm vielleicht nicht gut? Ob ihm etwas zugestoßen war?
Während seiner Zeit in Miln waren Jaik und Mery seine einzigen Freunde gewesen. Jaik hatte davon geträumt, ein Jongleur zu werden, und die Jungen hatten geplant, gemeinsam zu reisen, nachdem Arlen seine Kurier-Lizenz erhalten hätte, so wie Kuriere und Jongleure sich oft zusammentaten.
Doch während Arlen sein Ziel hartnäckig und voller Eifer verfolgte, fehlte Jaik einfach die Lust, fleißig zu üben, bis er die Künste eines Jongleurs beherrschte. Als für Arlen dann der Zeitpunkt gekommen war, die Stadt zu verlassen, konnte Jaik genauso wenig jonglieren, wie er hätte fliegen können.
Trotzdem schien er es zu etwas gebracht zu haben. Zwar ließ sich sein Häuschen nicht mit einer prachtvollen Villa wie die von Ragen und Elissa vergleichen, aber es war solide gebaut und gut in Schuss gehalten; nach den Maßstäben, die in dem engen, übervölkerten Miln herrschten, konnte man es sogar als geräumig bezeichnen. Um diese Zeit arbeitete Jaik vermutlich in der Mühle, was dem Tätowierten Mann sehr gelegen kam. Bestimmt würde er daheim jemanden aus seiner Familie antreffen, dem er einen Packen Briefe aushändigen konnte; es war höchst unwahrscheinlich, dass diese Leute Arlen Strohballen erkennen würden, geschweige denn den Tätowierten Mann.
Aber nie im Leben hätte er damit gerechnet, dass Mery ihm die Tür öffnete.
Als sie ihn sah, von Kopf bis Fuß eingehüllt und mit hochgeschlagener Kapuze, rang sie nach Luft und wich einen Schritt zurück.
Genauso erschrocken und überrascht wie sie, trat auch er zurück.
»Ja?«, fragte Mery, nachdem sie sich von ihrem Schreck erholt hatte. »Kann ich dir behilflich sein?« Sie ließ eine Hand an der Tür, bereit, sie jeden Moment wieder zuzuschlagen.
Sie war älter als er sie in Erinnerung hatte, doch das minderte keineswegs ihre Schönheit. Im Gegenteil, die Mery, die er früher gekannt hatte, war eine Frühlingsknospe gewesen, und nun stand ihm eine voll erblühte Blume gegenüber. Ihre schlanke, jugendliche Gestalt wies nun üppige Kurven auf, ihr volles braunes Haar umrahmte in Wellen das runde Gesicht und die weichen Lippen, die er tausendmal geküsst hatte. Er spürte, wie seine Hände bei ihrem Anblick zu zittern anfingen, doch wie unvorbereitet ihn ihre Anmut und ihr Liebreiz auch getroffen hatten, die Tatsache, dass sie ihm die Tür aufgemacht hatte, versetzte ihm einen noch viel größeren Schock.
Sie hatte Jaik geheiratet. Jaik, der ihm Schnappball spielen beigebracht hatte und durch das Hinterfenster eines Bäckerladens Süßigkeiten stahl, die er dann mit ihm teilte. Jaik, der ihm fast schon ehrfürchtig überallhin gefolgt war, nachdem Arlen ihm erzählt hatte, er wolle Kurier werden. Jaik, den Mery immer übersah, weil sie nur Augen für Arlen hatte.
»Ich bitte um Entschuldigung«, antwortete er, zu verstört, um daran zu denken, seine Stimme zu verstellen. »Ich muss mich wohl geirrt …« Er drehte sich auf dem Absatz um und marschierte mit langen Schritten den Mühlenweg hinunter.
Er hörte, wie sie hinter ihm keuchte, und beeilte sich noch mehr.
»Arlen?«, rief sie. Er fing an zu rennen.
Doch als er loshetzte, merkte er, dass sie ihm folgte. »Arlen, bleib stehen! Bitte!«, schrie sie, aber er achtete nicht darauf, wollte nur flüchten, und seine kräftigen Beine machten ihn so schnell, dass sie gar keine Möglichkeit bekam, ihn einzuholen.
Mitten auf der Straße lag ein umgekippter Karren, und in dem Durcheinander stritten sich zwei Männer. Er verlor kostbare Sekunden, als er den Wagen umrundete, und Mery verkürzte den Abstand zwischen ihnen. Er rannte zwischen zwei Häusern hindurch, in der Hoffnung, den Weg abzukürzen, doch den Durchlass, an den er sich erinnerte, gab es nicht mehr; die Gasse endete jetzt vor einer
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