Das Flüstern der Nacht
betteln überall um Aufnahme, und dieser neue Erlöser unternimmt nichts dagegen?«
Sogar so weit in den Norden waren die Gerüchte vorgedrungen. »Bevor ich die Nachrichten darüber in der Öffentlichkeit verbreiten darf, muss ich sie dem Herzog vorgetragen haben«, entgegnete der Tätowierte Mann. »Aber ja, es sieht nicht gut aus im Süden.«
Der Wächter grunzte und bedeutete ihm mit einem Wink, in die Stadt zu reiten.
Der Tätowierte Mann fand einen Gasthof und führte Schattentänzer zu den Stallungen. Ein Junge war bereits dabei, die Ställe auszumisten. Er konnte nicht älter sein als zwölf und war sehr schmutzig.
Dienerstand, dachte der Tätowierte Mann. Der Kleine war ein Knecht und aus diesem Grund schon so früh bei der Arbeit. Vermutlich schlief er in den Ställen und war froh, nachts überhaupt ein Dach über dem Kopf zu haben. Er griff in seine Börse, holte eine schwere Goldmünze heraus und drückte sie dem Jungen in die Hand.
Dem Jungen fielen fast die Augen aus dem Kopf, als er die Münze betrachtete. Wahrscheinlich hatte er noch nie so viel Geld in der Hand gehabt. Das reichte aus, um sich neue Kleidung und Lebensmittel sowie ein ordentliches Quartier für einen Monat zu kaufen.
»Kümmere dich darum, dass mein Pferd gut versorgt wird, dann kriegst du noch eine Münze, wenn ich es wieder abhole«, versprach ihm der Tätowierte Mann. Es war außergewöhnlich großzügig und konnte Aufmerksamkeit erregen, aber Geld bedeutete
ihm nichts mehr, und er wusste, wie schnell ein Dienstbote in Miln zum Bettler herabsinken konnte. Er verließ den Jungen und betrat den Gasthof.
»Ich brauche für ein paar Nächte ein Zimmer«, sagte er zu dem Gastwirt und tat so, als wären die Satteltaschen und die Ausrüstung schwer, obwohl das Zeug ihm federleicht vorkam.
»Fünf Monde pro Nacht«, antwortete der Gastwirt. Er sah viel zu jung aus, um eine Herberge zu führen, und er verbeugte sich auffällig in seinem Bemühen, unter die Kapuze des Tätowierten Mannes zu peilen.
»Ein Flammendämon hat mir ins Gesicht gespuckt«, behauptete der Tätowierte Mann, und bei dem gereizten Tonfall, der nicht einmal gespielt war, wich der Mann zurück. »Ich bin kein schöner Anblick.«
»Ja, sicher, Kurier«, erwiderte der Gastwirt und verbeugte sich noch einmal. »Entschuldige bitte. Ich hätte nicht so glotzen dürfen.«
»Schon gut«, brummte der Tätowierte Mann. Er trug seine Sachen die Treppe hinauf und schloss sie in seiner Kammer ein, bevor er sich auf den Weg in die Stadt machte.
Die Straßen von Miln waren bunt und vertraut, der Mief der Dungfeuer und der beißende Gestank, der von den Öfen der Eisenhütten herüberwehte, beinahe wohltuend. Alles war genauso, wie er es in Erinnerung hatte, und trotzdem kam es ihm fremd vor.
Er hatte sich verändert.
Selbst nach so langer Zeit hätte er den Weg zu Cobs Werkstatt im Schlaf finden können, doch als er schließlich davor stand, glaubte er, ihn träfe der Schlag. An beiden Seiten hatte man große
Anbauten hinzugefügt. Das kleine Haus hinter dem Laden, in dem er und Cob gewohnt hatten, war abgerissen und durch eine Lagerhalle ersetzt worden, in die das Häuschen mehrere Male hineingepasst hätte. Als Arlen fortging, waren Cobs Geschäfte gut gelaufen, aber sie ließen sich nicht mit dem vergleichen, was er hier sah. Verunsichert ging er zum Haupteingang.
Ein Glockenspiel bimmelte, als er die Tür öffnete, und bei dem Geräusch durchlief ihn ein Schauer; er hatte das Gefühl, als sei ein Teil seiner Seele zu ihm zurückgekehrt.
Der Laden war jetzt viel größer, aber immer noch angefüllt mit vertrauten Dingen und Gerüchen. Da war die Werkbank, über die er sich unzählige Stunden gebeugt hatte. Der kleine Handkarren, mit dem er durch die ganze Stadt gezogen war. Er trat an eine Fensterbank und fuhr andächtig mit seinen behandschuhten Fingern über die Siegel, die er in den Stein geritzt hatte. Fast kam es ihm so vor als könne er ein Werkzeug zum Bannzeichnen in die Hand nehmen und wieder an seine Arbeit zurückkehren, als hätte es die letzten acht Jahre nicht gegeben.
»Kann ich dir helfen?«, fragte eine Stimme. Der Tätowierte Mann erstarrte, sein Blut verwandelte sich in Eis. Er war in einer anderen Zeit versunken gewesen und hatte nicht gehört, wie sich ihm jemand näherte; doch ohne sich umzusehen wusste er, wer diese Person war. Er wusste es, und er hatte entsetzliche Angst. Was tat sie hier? Was hatte das zu bedeuten? Langsam drehte er sich
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