Das Flüstern der Nacht
zu ihr um, das Gesicht im Schatten der Kapuze versteckt.
Die Zeit schien an Mutter Elissa spurlos vorübergegangen zu sein. Trotz ihrer sechsundvierzig Winter war ihr langes Haar immer noch voll und schwarz, die Wangen waren glatt, und nur um die Augen und den Mund hatten sich feine Fältchen gebildet. Er hatte gehört, dass man sie Lachfalten nannte, und ihm fiel ein Stein vom Herzen.
Ich hoffe, sie hat während der letzten acht Jahre viel gelächelt, wünschte er sich.
Elissa öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch ein junges Mädchen mit langen braunen Haaren und großen braunen Augen kam zu ihnen gerannt und zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Das Mädchen trug ein Kleid aus braunrotem Samt mit einem passenden Band im Haar. Das Band war verrutscht, dichte Locken fielen ihr ins Gesicht, und die Wangen und Hände waren weiß von Kreide, die auch auf dem Kleid Streifen hinterlassen hatte. Der Tätowierte Mann wusste sofort, dass es Marya war, Ragens und Elissas Tochter, die er bereits kurz nach ihrer Geburt auf dem Arm getragen hatte. Sie war arglos und hübsch, und es schmerzte ihn, in ihr all die Jahre voller Freude zu sehen, die er versäumt hatte.
»Mutter, schau, was ich gezeichnet habe!«, rief das Mädchen. Sie hielt eine Schiefertafel hoch, auf die sie einen Bannzirkel gemalt hatte. Der Tätowierte Mann brauchte nur einen kurzen Moment, um zu sehen, wie stark die Siegel waren. Darüber hinaus erkannte er viele seiner Siegel, die er aus Tibbets Bach mitgebracht hatte. Er fand Trost in dem Wissen, dass er ihr Leben wenigstens ein kleines bisschen beeinflusst hatte.
»Sie sind wunderschön, meine Süße«, lobte Elissa und beugte sich hinunter, um die Locken ihrer Tochter wieder mit dem Band zusammenzufassen. Als sie damit fertig war, drückte sie Marya einen Kuss auf die Stirn. »Bald nimmt dein Vater dich mit, wenn er seine Geschäftsbesuche macht.« Das Mädchen quietschte leise vor Entzücken.
»Wir müssen einen Kunden bedienen, meine Süße.« Einen Arm um das Mädchen gelegt, wandte sich Elissa wieder dem Tätowierten Mann zu. »Ich bin Mutter Elissa.« Auch nach all den Jahren hörte man noch heraus, wie stolz sie auf diesen Titel war. »Und das ist meine Tochter …«
»Bist du ein Fürsorger?«, fiel das Mädchen ihrer Mutter ins Wort.
»Nein«, antwortete der Tätowierte Mann in dem rauen Ton, den er sich angewöhnt hatte, seit er dazu übergegangen war, sich
von Kopf bis Fuß zu tätowieren. Auf gar keinen Fall sollte Elissa ihn an seiner Stimme erkennen.
»Warum kleidest du dich dann wie einer?«, wollte das Mädchen wissen.
»Ich habe Dämonennarben«, erwiderte er, »und ich will dich nicht erschrecken.«
»Ich habe keine Angst«, gab das Mädchen zurück und versuchte, unter seine Kapuze zu spähen. Er trat einen Schritt zurück und zog die Kapuze noch tiefer ins Gesicht.
»Du bist unhöflich«, tadelte Elissa die Kleine. »Und jetzt lauf und spiel mit deinem Bruder.«
Das Mädchen setzte eine rebellische Miene auf, aber Elissa bedachte sie mit einem strengen Blick und sie flitzte durch den Raum zu einem Arbeitstisch, an dem ein Junge von vielleicht fünf Wintern saß und mit Siegeln bemalte Bauklötze aufeinanderstapelte. In dem jungen Gesicht erkannte der Tätowierte Mann Ragen wieder, und er freute sich unbändig für seinen Mentor; doch in das Glück mischte sich das tiefe Bedauern, dass er den Jungen nie kennenlernen würde, und auch nicht den Mann, zu dem er einmal heranwachsen würde.
Elissa wirkte verlegen. »Das tut mir leid. Mein Mann hat auch Narben, die er keinem Fremden zeigt. Dann bist du also ein Kurier?«
Der Tätowierte Mann nickte.
»Womit kann ich dir dienen?«, fragte sie. »Brauchst du einen neuen Schild? Oder willst du einen Bannzirkel reparieren lassen?«
»Ich suche einen Bannzeichner namens Cob. Mir wurde gesagt, dieser Laden gehöre ihm.«
Traurig schüttelte Elissa den Kopf. »Cob ist seit fast vier Jahren tot«, erwiderte sie, und die Worte trafen ihn härter als der Schlag eines Dämons. »Er starb an Krebs. Werkstatt und Laden hat er meinem Mann und mir hinterlassen. Wer hat dir erzählt, dass du ihn hier antreffen würdest?«
»Ein … Kurier, den ich kannte«, erwiderte der Tätowierte Mann, benommen von dem Schock.
»Welcher Kurier?«, hakte Elissa nach. »Wie hieß er?«
Der Tätowierte Mann zögerte; seine Gedanken überschlugen sich. Ihm fiel kein Name ein, und er wusste, je länger er wartete, umso größer war das Risiko, entlarvt zu
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