Das Flüstern der Nacht
nicht du. Dich trifft gar keine Schuld.«
Als sie ihn nur aus großen Augen anstierte, schüttelte er sie. »Hast du mich gehört?!«
Einen Moment lang starrte sie ihn nur an, dann nickte sie langsam. Sie nickte ein zweites Mal, energischer. »Was er mit uns gemacht hat, war nicht recht.«
»Das ist noch milde ausgedrückt«, knurrte der Tätowierte Mann.
»Und der arme Cobie war immer grundanständig«, ergänzte Renna, und nun sprudelten die Worte aus ihr heraus. »Er war kein Rüpel, jedenfalls habe ich ihn nie so erlebt. Er hatte nie etwas Übles im Sinn, das Einzige, was er wollte, war, mich zu heiraten. Aber Dad …«
»Dein Dad hat ihn deswegen umgebracht«, schloss der Tätowierte Mann, als sie zögerte.
Sie nickte. »Wer so was tut, ist selbst nicht viel besser als ein Dämon.«
»Genau«, bekräftigte er. »Und gegen Dämonen muss man sich wehren, Renna Gerber. Nur dann kann man im Leben den Kopf hoch tragen. Man darf nicht von anderen verlangen, etwas zu leisten, was man selbst nie fertigbringen würde.«
Renna schlief tief und fest neben dem Kamin, als Jephs Karren früh am nächsten Morgen in den Hof rollte. Der Tätowierte Mann beobachtete die Ankunft durch ein Fenster und musste krampfhaft schlucken, weil von der hinteren Ladefläche vier Kinder
hüpften, seine Brüder und Schwestern, die er noch gar nicht kannte.
Nach ihnen kletterten die zähe alte Norine und Ilain von dem Fuhrwerk. Als Junge hatte der Tätowierte Mann für Ilain geschwärmt, und auch jetzt war sie noch wunderschön; doch es fiel ihm schwer, sich anzusehen, wie sein Vater ihr vom Vordersitz herunterhalf, so wie er es früher mit seiner Mutter getan hatte. Er machte Ilain keinen Vorwurf daraus, dass sie damals Harl entkommen wollte - jedenfalls jetzt nicht mehr -, doch das machte es für ihn nicht leichter, mitanzusehen, wie schnell sie den Platz seiner Mutter eingenommen hatte.
»Sie schläft am Feuer«, sagte er zur Begrüßung.
Jeph nickte. »Danke, Kurier.«
»Du hast versprochen, sie vor jedem zu beschützen, der ihr ein Leid antun will. Und ich verlasse mich darauf, dass du zu deinem Wort stehst.« Mit einem tätowierten Finger stach der Tätowierte Mann seinem Vater in die Brust.
Jeph schluckte, aber er nickte. »Das werde ich.«
Der Tätowierte Mann kniff leicht die Augen zusammen. Jeph war schnell bei der Hand mit aufrichtig klingenden Versprechen, die er auch einhalten wollte, doch wenn dann der Ernstfall eintrat, kniff er meistens.
Aber dem Tätowierten Mann blieb gar nichts anderes übrig als darauf zu vertrauen, dass sein Vater wenigstens dieses eine Mal Rückgrat beweisen würde, wenn es hart auf hart kam. »Gut. Ich hole jetzt mein Pferd und breche auf.«
»Warte, bitte.« Jeph hielt ihn am Arm fest. Der Tätowierte Mann schaute vielsagend auf seine Hand, und hastig ließ Jeph ihn wieder los.
»Ich dachte nur …« Er zögerte. »Wir würden uns freuen, wenn du zum Frühstück bleibst. Das ist das mindeste, was wir dir anbieten können. Am Abend versammelt sich vielleicht die ganze Gemeinde auf dem Platz, schließlich hast du die Leute ja zum
Kommen ermuntert. Bis dahin kannst du es dir bei uns bequem machen.«
Der Tätowierte Mann sah ihn an; einerseits wollte er weg von diesem Ort, doch andererseits sehnte er sich danach, seine Geschwister kennenzulernen, und beim Gedanken an ein deftiges Frühstück, wie es in Tibbets Bach üblich war, fing sein Magen an zu knurren. Als Kind hatte ihm so etwas nicht viel bedeutet, doch nun waren es treue Erinnerungen.
»Ich schätze, ich kann ein Weilchen bleiben«, erwiderte er und ließ sich wieder ins Haus zurücklotsen, während die Kinder losrannten, um ihre Pflichten zu erledigen, und Norine und Ilain auf die Kühlkammer zusteuerten.
»Das hier ist der junge Jeph«, stellte Jeph seinen ältesten Sohn vor, als sie alle am Frühstückstisch saßen. Der Bub nickte ihm zu, doch die meiste Zeit starrte er auf die tätowierten Hände und versuchte, in den Schatten der Kapuze zu spähen.
»Neben ihm sitzt Jeni Schneider«, fuhr Jeph fort. »Die beiden sind seit fast zwei Jahreszeiten einander versprochen. Und am Ende des Tisches sitzen unsere Jüngsten, Silvy und Cholie.«
Der Tätowierte Mann, der zwischen Renna und Norine den Kindern gegenübersaß, verschluckte sich, als er die Namen hörte; es waren die seiner Mutter und seines Onkels. Um seine Überraschung zu verbergen, nippte er an seinem Becher. »Ihr habt hübsche Kinder.«
»Fürsorger Harral sagt,
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