Das Flüstern der Nacht
ungeheure Kraft verzichten?«
Ihre Frage schien ihn zu verwirren. Er klappte den Mund auf und machte ihn wieder zu. »Ich weiß selbst nicht, was ich mir wünsche«, gestand er nach einer Weile. »Aber es ließe sich ohnehin
nicht mehr rückgängig machen, und als ich die Entscheidung traf, mich zu tätowieren, war ich nicht bei vollem Verstand.« Er zeigte mit dem Finger auf sie. »Und von einem klaren Geist kann bei dir auch nicht die Rede sein.«
»Wofür hältst du dich, Arlen Strohballen, wenn du glaubst, beurteilen zu können, wann ich richtig im Kopf bin und wann nicht?«
Wieder einmal ging er nicht auf sie ein, eine Angewohnheit, die sie zur Weißglut brachte, sondern griff nach einem Speer und hielt ihn ihr entgegen. Skeptisch musterte sie die Waffe, ohne die Hand danach auszustrecken.
»Alle Sprecher haben es getan«, erinnerte Arlen.
»Das weiß ich. Aber wenn ich kämpfe, dann mit meinem eigenen Messer.« Zumindest mit dem Einritzen der Stich- und Schneidesiegel war sie fertig. Sie reichte ihm die Klinge zur Begutachtung.
»Ein schönes Messer«, meinte Arlen, als er es ihr abnahm. Mit dem Daumen prüfte er die Schärfe, und schon bei dem geringsten Druck quoll Blut aus seiner Haut. »Und so scharf, dass es zum Rasieren taugt.«
»Dad hat es pfleglicher behandelt als seine eigene Familie.«
Schweigend sah Arlen sie an. Er drehte und wendete das Messer, um die eingeritzten Siegel kritisch zu untersuchen. »Du bist eine gute Bannzeichnerin«, lobte er sie. An seinem Ton merkte sie, dass er es bereute, anfangs an ihren Fähigkeiten gezweifelt zu haben. »Eine bessere Arbeit habe ich selten gesehen. Es könnten ruhig ein paar Siegel mehr sein, aber fürs Erste genügt es.« Er gab ihr das Messer zurück, den Griff voran, und mit einem zufriedenen Brummen nahm sie es entgegen.
»Jetzt muss es nur noch erprobt werden«, erklärte Arlen. »Zeit, den Zirkel zu verlassen.«
Renna war sich darüber im Klaren gewesen, dass das notwendig sein würde, trotzdem konnte sie den aufwallenden Schauder
nicht unterdrücken, der in diesem Moment wie ein Brechreiz in ihr hochstieg. Ihrer Schwester hatte sie erzählt, sie würde sich vor nichts mehr fürchten, doch das entsprach nicht ganz der Wahrheit. Menschen konnten ihr keine Angst mehr einflößen, aber Horclinge … Die Erinnerungen an die Nacht in dem Abort verfolgten sie immer noch und erschreckten sie manchmal sogar, wenn sie wach war.
Arlen legte eine Hand auf ihre Schulter. »Wir sind meilenweit von jeder Ansiedlung entfernt, Ren. Horclinge ballen sich dort zusammen, wo sie Jagd auf Menschen oder auf Großwild machen können. So weit draußen gibt es nur sehr wenige Dämonen. Du hast deinen Umhang, und ich bin ja bei dir.«
»Um mich zu retten«, bemerkte Renna. Er nickte, und plötzlich wurde sie wütend. Sie war es leid, darauf zu warten, dass andere ihr halfen, aber als sie einen Baumdämon entdeckte, der am Rand der Straße entlangschlich, erschauerte sie. »Ich bin noch nicht so weit«, gestand sie und hasste sich dafür, ihre Schwäche zugeben zu müssen.
Doch Arlen rügte sie nicht, so wie er die Sprecher provoziert hatte. »Ich weiß, dass du vor Angst fast vergehst. Beim ersten Mal ist mir auch das Herz in die Hose gerutscht. Aber in Krasia habe ich gelernt, meine Furcht zu umarmen .«
»Wie geht das?«
»Öffne dich diesem Gefühl«, riet er ihr, »und dann lass deinen Geist zurückweichen.«
Renna schnaubte. »Das ergibt keinen Sinn.«
»Oh doch«, behauptete Arlen. »Ich habe gesehen, wie Knaben, halb so alt wie ich, Dämonen nur mit einem Speer ohne Siegel angriffen. Ich habe gesehen, wie sie Schmerzen nicht beachteten und weiterkämpften, als sei nichts geschehen, bis sie entweder siegten oder tot umfielen. Angst und Schmerzen können dir nur etwas anhaben, wenn du es zulässt.«
»Ist das wahr?«, vergewisserte sich Renna.
Er nickte. Renna schloss die Augen und öffnete sich ihrer Angst. Der Anspannung in ihren Gliedmaßen und der Übelkeit in ihrem Magen. Der Verkrampfung ihrer Fäuste und der Kälte auf ihrem Gesicht. Als sie merkte, dass sie sich all dieser Empfindungen bewusst war, verscheuchte sie sie aus ihren Gedanken.
Arlen hob einen Finger und deutete auf einen kleinen Baumdämon, der sich an einen nahen Baum klammerte. Normalerweise wäre er vollkommen mit dem Stamm verschmolzen, doch jetzt sahen ihre durch die Siegel schärfer gewordenen Augen ganz deutlich die in grellem Glanz strahlende Kreatur, die sich auffällig von
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