Das Flüstern der Nacht
bereit waren, mich den Horclingen zu opfern.«
»Dann läufst du also lieber mit einem Wildfremden davon, der so verrückt ist, sich selbst mit Siegeln zu entstellen?«
Renna stand auf und schnaubte. »Du hast es gerade nötig, so zu reden! Du hast Jeph Strohballen nicht geliebt, als du mit ihm durchgebrannt bist, Lainie. Du wusstest nichts über ihn, außer, dass er die Sorte Mann war, die sich eine neue Frau nehmen, noch bevor die verstorbene kalt ist!«
Ilain schlug Renna ins Gesicht, doch die zuckte nicht mit der Wimper; der Blick, mit dem sie ihre Schwester zu durchbohren schien, war so hart und kalt, dass Ilain erschrocken zurückwich.
»Der Unterschied zwischen uns besteht darin, dass ich nicht weglaufe , sondern nur mein Versteck verlasse, Lainie. Anstatt Zuflucht bei einem Mann zu suchen, wage ich mich aus der Deckung heraus.«
»Und was hast du vor?«
»Tibbets Bach ist kein Ort, an dem ich noch länger leben will. Hier wohnen Leute, die einem Mann wie Dad nicht Einhalt gebieten, mich aber der Nacht übergeben. Ich weiß nicht, wie es in den Freien Städten zugeht, aber dort muss es besser sein als hier.«
Sie beugte sich vor und senkte die Stimme, damit keiner sie zufällig belauschen konnte.
»Ich habe Dad umgebracht, Lainie«, flüsterte sie und hielt das zur Hälfte mit Siegeln bedeckte Messer hoch. »Es ist wahr, ich habe es getan. Ich habe diesen Sohn des Horc kaltgemacht. Und das war richtig so, nicht nur, weil er uns gequält hat, sondern auch, weil er noch viel mehr Scheußlichkeiten begangen hätte, hätte ich ihm nicht das Messer in den Rücken gerammt. Dad hat nie für etwas bezahlt, was er nicht für eine Unze Grausamkeit umsonst kriegte.«
»Renna!«, schrie Ilain und wich zurück als hätte sich ihre Schwester in einen Dämon verwandelt.
Renna schüttelte den Kopf und spuckte über das Verandageländer. »Hättest du nur einen Funken Schneid gehabt, hättest du es längst selbst getan, als Beni und ich noch Kinder waren.«
Ilain riss die Augen auf, widersprach jedoch nicht; Renna wusste nicht, ob aus schlechtem Gewissen oder Schock. Sie drehte sich um und schaute über den Hof.
»Ich mache dir keinen Vorwurf«, sagte sie nach einer Weile. »Wenn ich Schneid gehabt hätte, hätte ich es schon in der Nacht getan, in der er mich das erste Mal vergewaltigt hat. Aber ich unternahm nichts, weil ich schreckliche Angst hatte.«
Sie kehrte Ilain ihr Gesicht wieder zu und sah ihr in die Augen. »Aber jetzt habe ich keine Angst mehr, Lainie. Ich fürchte mich weder vor Raddock Advokat noch vor Garric Fischer, und auch nicht vor diesem Kurier. Ich halte ihn für einen anständigen Mann. Aber sollte er sich als so etwas wie Dad entpuppen, werde ich der Welt einen Gefallen erweisen und ihn töten. Das ist so sicher wie der Sonnenaufgang.«
Ein paar Stunden später ritt der Tätowierte Mann in forschem Tempo auf den Hof. Renna wartete auf der Veranda und lief zu
ihm hinaus, während der riesige Hengst unruhig tänzelte und Staubwolken aufwirbelte.
»Das Licht schwindet«, bemerkte er, ohne abzusitzen. Er streckte eine Hand nach ihr aus.
»Willst du dich nicht verabschieden?«, fragte Renna.
»In Tibbets Bach wird das Leben demnächst richtig spannend«, erwiderte er. »Ich will den Leuten keinen Anlass geben, zu glauben, ich stünde mit Jeph und Lainie Strohballen auf freundschaftlichem Fuße. Das Beste wird sein, sie nehmen an, ich hätte dich einfach verschleppt.«
Renna schüttelte entschlossen den Kopf. »Dein Dad hat es nicht verdient, so von dir behandelt zu werden.«
Er sah sie verärgert an. »Ich werde ihm nicht verraten, wer ich bin!«, knurrte er.
Aber Renna ließ nicht locker. »Sag ihm wenigstens, dass sein Sohn nicht tot ist. Wenn du dich weigerst, hast du kein Recht, zu beurteilen, welche Menschen gut genug sind, um deine Siegel zu bekommen, und welche nicht.« Der Tätowierte Mann verzog mürrisch das Gesicht, aber er saß ab. Er wusste, dass Renna Recht hatte, auch wenn es ihn wurmte, das eingestehen zu müssen.
»Wir brechen auf!«, schrie sie, und aus allen Richtungen rannte die Familie auf den Hof. Der Tätowierte Mann warf seinem Vater einen Blick zu und bedeutete ihm mit einem Kopfnicken, sich von dem Gedränge zu entfernen. Jeph folgte ihm.
»Ich bin mal in einer Karawane mitgeritten, zu der ein gewisser Arlen Strohballen von der Kuriergilde gehörte«, begann er, sobald sie allein waren. »Hätte dein Sohn sein können. Der Name Strohballen ist weit
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