Das Flüstern der Nacht
Gold und Elfenbein lackiert. An den Wänden hingen Porträts, die vermutlich die ursprünglichen Besitzer dieser Residenz darstellten; ihre Augen schienen sie wehmütig zu beobachten, als sie die Treppe hinaufstiegen. Leesha fragte sich, was aus den Bewohnern der Villa geworden war, nachdem die Krasianer sie von hier vertrieben hatten.
»Wenn du die Güte hättest, hier oben mit deinem Gefolge zu warten, Meisterin«, bat Abban. »Ich bin gleich wieder da, um sie zu ihren eigenen Räumlichkeiten zu geleiten.«
Leesha nickte; Abban verbeugte sich und ließ sie in einem weitläufigen Salon zurück, durch dessen Fenster man einen atemberaubenden Blick auf die gesamte Stadt Rizon hatte.
»Geh raus und bewach die Tür, Gared«, entschied Leesha, nachdem Abban gegangen war. Sobald die Tür hinter dem Hünen ins Schloss gefallen war, stürzte sich Leesha auf ihre Mutter.
»Du hast ihnen erzählt, ich sei noch Jungfrau?«, schnauzte sie.
Elona zuckte die Achseln. »Sie gingen davon aus. Ich ließ sie nur in dem Glauben.«
»Und wenn ich ihn heirate und er merkt, dass ich keine mehr bin?«
Elona prustete durch die Nase. »Du wärst nicht die erste Braut, die als erfahrene Frau ins Ehebett steigt. Kein Mann würde sich deshalb von einer Frau abwenden, die er wirklich begehrt.« Sie warf einen Blick auf Erny, der seine Schuhe anstarrte, als stünde etwas darauf geschrieben.
Leesha machte eine finstere Miene und schüttelte den Kopf. »Es ist ohnehin nicht von Belang. Ich denke nicht daran, nur irgendeine Braut in einem Harem zu sein. Der Mann hat Nerven, bringt mich hierher, ohne mir etwas davon zu sagen!«
»Verflucht, um der Nacht willen!«, rief Rojer. »Stell dich nicht so an, du hättest es dir denken können. Jede Geschichte über Krasia beginnt mit einem Stammesfürsten, der Dutzende von gelangweilten Gemahlinnen in einen Harem sperrt. Und was für einen Unterschied macht es überhaupt? Du sagtest doch schon, dass du nicht die Absicht hättest, ihn zu heiraten.«
»Dich hat keiner um deine Meinung gebeten«, fauchte Elona. Leesha sah ihre Mutter an, als ginge ihr plötzlich ein Licht auf.
»Du hast gewusst, dass er verheiratet ist, nicht wahr?«, warf sie ihr vor. »Du hast es gewusst, und trotzdem wolltest du mich verschachern wie ein Stück Vieh!«
»Ich wusste es, jawohl«, erwiderte Elona. »Aber ich wusste auch, dass er das Tal zu Asche oder meine Tochter zu einer Königin machen kann. Habe ich eine so schlechte Wahl getroffen?«
»Wen ich heirate, hast du nicht zu entscheiden«, gab Leesha zurück.
»Nun, irgendwer musste ja eine Entscheidung fällen«, zischte Elona. »Und du warst nicht dazu imstande, das ist so sicher wie die Nacht.«
Leesha funkelte sie erbost an. »Was hast du ihnen versprochen, Mutter? Und was haben sie im Gegenzug angeboten?«
»Was ich ihnen versprochen habe, willst du wissen?« Elona lachte schrill. »Hier geht es um eine Heirat. Das Einzige, was der Bräutigam will, ist eine Bettgespielin und eine Frau, die ihm Kinder gebärt. Ich habe versichert, du seist fruchtbar und würdest Söhne zur Welt bringen. Weiter nichts.«
»Du widerst mich an!«, fauchte Leesha. »Und woher willst du überhaupt wissen, ob ich Kinder bekommen kann, obendrein auch noch Söhne?«
»So ganz nebenbei ließ ich deine sechs älteren Brüder ins Gespräch einfließen«, gab Elona zu. »Die alle auf tragische Weise ums Leben kamen, als sie gegen Dämonen kämpften.« Betrübt schnalzte sie mit der Zunge.
»Mutter, wie konntest du nur?«, schrie Leesha.
»Denkst du, sechs sind zu viel? Ich war auch besorgt, ich könnte zu dick aufgetragen haben, doch Abban schien nichts dabei zu finden, wirkte sogar ein wenig enttäuscht. Ich glaube, ich hätte die Zahl sogar noch höher ansetzen können.«
»Selbst ein Bruder wäre zu viel gewesen! Lügen über tote Kinder erzählen! Hast du denn vor nichts Respekt?«
»Was soll ich respektieren?«, versetzte Elona bissig. »Die Seelen von Kindern, die es nie gegeben hat?«
Leesha spürte, wie die Muskeln hinter ihrem linken Auge zuckten, und wusste, dass sich fürchterliche Kopfschmerzen anbahnten. Sie massierte ihre Schläfen. »Ich sehe schon, es war ein Fehler, hierherzureisen.«
»Diese Einsicht kommt ein bisschen spät«, meinte Rojer. »Selbst wenn sie uns gehen ließen, wäre es für sie dasselbe, als hätten wir ihnen ins Gesicht gespuckt, wenn wir jetzt abhauen.«
Die Schmerzen hinter Leeshas Auge verstärkten sich blitzartig und wurden von einer
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