Das Flüstern der Nacht
auf ihn. Jardirs Rücken, den sie unter gänzlich anderen Umständen oft mit diesen Nägeln zerkratzt hatte, konnte Zeugnis dafür ablegen, wie scharf sie waren.
Mit einer schnellen Drehung wich er ihr aus. Er erinnerte sich daran, wie sie ihn das letzte Mal geschlagen hatte, und versuchte, möglichst wenig mit ihrem Körper in Berührung zu kommen, während er sich gegen ihre immer heftiger werdenden Attacken wehrte. Ihre langen Beine, nur in hauchdünne, durchsichtige Seide gekleidet, traten hoch und hart zu, während sie mit den Fingern nach ihm stach und versuchte, die verletzlichen Stellen zu treffen, an denen Muskeln und Nerven miteinander verbunden waren. Wenn es ihr gelänge, auch nur einen dieser Punkte zu erreichen, würden seine Arme und Beine ihm den Dienst versagen.
Jardir sah zum ersten Mal, wie der dama’ting sharusahk in vollem Ausmaß angewandt wurde, und fasziniert beobachtete er die präzisen, tödlichen Bewegungen. Ihm wurde klar, dass Inevera höchstwahrscheinlich einen Damaji töten konnte, bevor der überhaupt wusste, dass sie zugeschlagen hatte.
Aber Jardir war Shar’Dama Ka . Er war der größte lebende sharusahk -Meister, und dank der Magie, die sich vom Speer des Kaji auf ihn übertrug, war er körperlich stärker und schneller als je zuvor. Jetzt, wo er ihre Kampfkünste respektierte und auf der Hut blieb, war selbst Inevera ihm nicht gewachsen. Schließlich packte er ihr Handgelenk und schleuderte sie auf den Kissenberg.
»Greifst du mich noch einmal an«, knurrte er, »dann bringe ich dich um, auch wenn du eine dama’ting bist!«
»Die heidnische Hure hat deinen Geist verhext«, fauchte Inevera.
Jardir lachte. »Das mag schon sein. Oder sie hat damit angefangen, ihn zu befreien.«
Damaji Ichach musterte sie mit hasserfüllter Miene, als er mitsamt seinen Gemahlinnen und Kindern den Spiegelpalast verließ.
»Wenn Blicke töten könnten, dann wäre dieser Mann dazu imstande«, murmelte Rojer.
»Und dabei hat er diese Villa irgendeinem rizonischen Adligen gestohlen«, entgegnete Leesha.
»Wer weiß schon, was in diesen Leuten vorgeht? Vielleicht wäre es ihm lieber gewesen, wir hätten ihn und seine Familie umgebracht, anstatt sie aus diesem Haus zu vertreiben. Einen solchen Tod hätte er womöglich noch als Ehre aufgefasst.«
»Das ist nicht komisch, Rojer«, tadelte Leesha.
»Mir ist nicht bewusst, dass ich einen Witz gemacht hätte«, konterte Rojer.
Kurz danach kam Abban aus der Villa und verbeugte sich tief. »Dein Palast erwartet dich, Meisterin. Meine Gemahlinnen werden die unteren Stockwerke für dein Gefolge herrichten, aber deine privaten Gemächer, die gesamte oberste Etage, ist für dich vorbereitet.«
Leesha schaute an der großen Villa empor. Allein in der obersten Etage gab es Dutzende von Fenstern. Das ganze Geschoss sollte sie allein bewohnen? Es war mindestens zehnmal so groß wie die Hütte, die sie sich mit Wonda teilte.
»Sie bekommt die ganze Etage?«, fragte Rojer, der ebenfalls staunend die Residenz in Augenschein nahm.
»Selbstverständlich wird auch dein Quartier reich ausgestattet sein, Sohn des Jessum«, beschwichtigte Abban ihn. »Aber die Tradition verlangt, dass eine jungfräuliche Braut allein das oberste Stockwerk in Anspruch nimmt und ihr Gefolge die unteren Etagen
bewohnt, um zu gewährleisten, dass ihre Ehre unversehrt ist, wenn sie ihren Brautschleier anlegt.«
»Ich habe Ahmanns Antrag noch nicht angenommen«, erinnerte Leesha ihn.
Abban verbeugte sich. »So ist es, aber du hast ihn auch nicht abgelehnt, und deshalb bleibst du die Zukünftige meines Gebieters, bis du deine Entscheidung getroffen hast. Ich fürchte, in dieser Hinsicht sind die traditionellen Grundsätze bindend.«
Er beugte sich dicht zu ihr und schirmte mit der Hand seine Lippen ab, indem er vorgab, sich über den Bart zu streichen. »Und ich rate dir dringend, Meisterin, keinen endgültigen Entschluss zu fassen, solange du in Everams Füllhorn bist - es sei denn, deine Antwort lautet Ja.«
Leesha nickte; sie war bereits selbst zu dieser Einsicht gelangt.
Als sie die Villa betraten, sahen sie überall schwarz gekleidete Frauen, die Möbel polierten und aufräumten. Die Haupteingangshalle war zu beiden Seiten von Spiegeln gesäumt, die die Wände bis ins Unendliche reflektierten. Mitten über den auf Hochglanz gewienerten Steinboden verlief ein dicker, flauschiger Teppich, in den farbenfrohe Muster eingewebt waren, und das Geländer der breiten Treppe war in
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