Das Flüstern der Nacht
humpelte Abban, und wie immer war sie dankbar für seine Anwesenheit. Ihre Kenntnis der krasianischen Sprache machte rapide Fortschritte, doch es gab Hunderte von kulturellen Gepflogenheiten und Regeln, die die Nordländer nicht kannten. Genau wie Rojer konnte Abban sprechen, ohne die Lippen zu bewegen, und seine gewisperten Hinweise, wann sie sich verbeugen und wann sie nicken mussten, wann ein Nachgeben angebracht war und wann man auf seinem Standpunkt beharren sollte, hatten bis jetzt Konflikte vermieden.
Doch darüber hinaus stellte Leesha fest, dass sie Abban mochte . Trotz einer Behinderung, die ihn auf die niedrigste Stufe seiner Gesellschaft verbannte, war es dem khaffit gelungen, seinen Witz und seine gute Laune zu behalten, und in gewisser Weise war er sogar in eine völlig neue Machtposition aufgerückt.
»Das können doch nicht alle sein«, murmelte Rojer und musterte die versammelten Sharum , über tausend an der Zahl. »Es ist völlig ausgeschlossen, dass so wenige Männer ein ganzes Herzogtum eingenommen haben. Genauso viele Kämpfer könnte auch das Tal stellen.«
»Nein, Rojer«, zischelte Leesha zurück und schüttelte den Kopf. »Wir stellen Zimmerleute und Bäcker, Wäscherinnen und Schneiderinnen, die notfalls zur Waffe greifen, um der Nacht zu trotzen. Diese Männer sind Berufssoldaten.«
Rojer grunzte und ließ den Blick erneut über das Kontingent an Kriegern schweifen. »Trotzdem - das ist auf gar keinen Fall die volle Truppenstärke.«
»Du hast natürlich Recht«, mischte sich Abban ein, der offenbar jedes Wort ihres im Flüsterton geführten Gesprächs gehört hatte. »Was ihr hier seht, ist lediglich ein winziger Bruchteil der Streitmacht, die meinem Gebieter untersteht.« Er deutete auf die zwölf Einheiten, die im Hof am großen Tor aufmarschiert waren. »Dies sind die besten Kämpfer aus jedem der zwölf krasianischen Stämme, eine handverlesene Ehrengarde für ihre Damaji , die in der Stadt weilen. Vor euch steht eine unbezwingbare Elite, wie die Welt sie noch nie gesehen hat; doch selbst diese Krieger sind nichts, verglichen mit der Million Speerkämpfer, die der Shar’Dama Ka mobilisieren kann. Die restlichen Angehörigen der Stämme haben sich über Hunderte von Dörfern in Everams Füllhorn verteilt.«
Eine Million Speerkämpfer. Wenn Jardir nur ein Viertel von ihnen in Marsch setzte, taten die Freien Städte gut daran, sich schnellstmöglich zu ergeben - und sie sollte sich an die Vorstellung gewöhnen, Jardirs Gespielin zu werden. Aber Arlen schien davon überzeugt zu sein, dass die krasianische Armee wesentlich kleiner war. Leesha musterte Abban prüfend und überlegte, ob er die Wahrheit gesagt hatte. Dutzende Fragen schossen ihr durch den Sinn, aber sie behielt sie wohlweislich für sich, um nicht noch mehr von dem zu verraten, was sie bewegte.
Lass niemanden wissen, was du wirklich denkst, es sei denn, sie haben ein Recht, es zu erfahren, hatte Bruna ihr beigebracht, eine Philosophie, der Herzogin Araine sicherlich voll und ganz zustimmte.
»Und die Menschen, die in diesen Dörfern leben«, erkundigte sie sich. »Was ist aus ihnen geworden?«
»Sie wohnen immer noch dort«, erklärte Abban, offensichtlich tief gekränkt. »Du musst uns für Ungeheuer halten, wenn du fürchtest, wir könnten die Unschuldigen ermorden.«
»Ich fürchte, im Norden kursieren viele solche Gerüchte«, gab sie zu.
»Nun, sie entbehren jeder Grundlage«, behauptete Abban. »Die Menschen in den eroberten Gebieten sind uns tributpflichtig, das stimmt. Die Knaben und Männer werden im alagai’sharak unterwiesen, aber ansonsten verläuft ihr Leben wie immer. Und als Gegenleistung ernten sie in der Nacht Ruhm und Ehre.«
Wieder forschte Leesha in Abbans Gesicht nach einem Hinweis darauf, wo aus einer Übertreibung eine Lüge wurde, aber sie konnte nicht in seinen Zügen lesen. Knaben und Männer in einen Krieg zu schicken war ein Gräuel, aber zumindest konnte sie den verzweifelten Flüchtlingen daheim im Tal berichten, ihre gefangen genommenen Ehemänner, Brüder und Söhne seien höchstwahrscheinlich noch am Leben.
Als Leesha und ihre Gefährten auftauchten, ging ein Raunen durch die Reihen der Krieger; doch ihre Anführer, die an den weißen Gesichtsschleiern zu erkennen waren, brüllten ein paar Befehle, die Sharum verstummten und standen stramm zur Musterung. Vor ihnen hatten zwei Männer Position bezogen; der eine trug zur schwarzen Kriegerkluft einen weißen Turban, der andere
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