Das Flüstern der Nacht
meine Zunge«, lobte Jardir, während er seine Schüssel nach der zweiten Portion leerkratzte.
»Das war doch nichts Besonderes, nur ein gewöhnlicher Eintopf«, erwiderte Leesha, trotzdem brachte das Kompliment sie unwillkürlich zum Lächeln.
»Ich hoffe, du bist noch nicht allzu satt.« Jardir zeigte ihr einen großen roten Apfel. »Ich habe gelernt, diese Frucht des Nordens zu genießen, und ich möchte sie mit dir teilen, so wie du das Brot geteilt hast.«
Leesha spürte, wie ihr beim Anblick des Apfels das Wasser im Mund zusammenlief. Wann hatte sie das letzte Mal einen reifen Apfel gegessen? Seit die halbverhungerten Flüchtlinge die Gegend um das Tal des Erlösers kahlfraßen wie ein Schwarm Heuschrecken, verschwanden die Äpfel von den Bäumen, kaum dass sie genießbar geworden waren, mitunter sogar noch früher.
»Sehr gerne«, erwiderte sie, bemüht, sich ihre Gier nicht anmerken zu lassen. Jardir zückte ein kleines Messer und schnitt säuberliche runde Scheiben ab, die sie verzehrten. Leesha kostete das süße Knirschen eines jeden Bissens genüsslich aus, und es dauerte eine Weile, bis der Apfel vertilgt war. Ihr fiel auf, dass Ahmann trotz seiner Behauptung, Äpfel sehr zu mögen, nahezu die ganze Frucht ihr überließ; er knabberte nur an den unregelmäßigen Schnipseln und beobachtete mit unverhohlenem Entzücken, wie sie das Obst kaute.
»Danke, das hat köstlich geschmeckt«, erklärte sie, nachdem der Apfel aufgegessen war.
Jardir, der ihr gegenübersaß, verneigte sich. »Es war mir ein Vergnügen. Und nun möchte ich dir gern ein paar Stellen aus dem Evejah vorlesen, so wie ich es dir versprochen hatte.«
Leesha nickte lächelnd und zog das schmale, in Leder gebundene Buch aus einer der tiefen Taschen ihres Kleides. »Das würde mich sehr freuen, aber wenn du mir aus deinem Buch vorliest, dann musst du am Anfang beginnen und schwören, es bis zum Ende zu lesen, ohne etwas auszulassen.«
Jardir legte den Kopf schräg und sah sie an; einen Moment lang befürchtete sie, sie könnte ihn beleidigt haben. Doch dann stahl sich langsam ein Lächeln in seine Züge.
»Das wird viele Nächte in Anspruch nehmen«, meinte er.
Leesha warf einen Blick über das Lager und die sich dahinter erstreckende leere Ebene. »Zurzeit habe ich in den Nächten nichts Besonderes vor.«
Überraschenderweise war es nicht Wonda, die die meiste Aufmerksamkeit erregte, als sie Everams Füllhorn erreichten, sondern Gared. Jardir sah die Blicke, mit denen die Sharum die riesenhafte Statur und die gewaltigen Muskeln des Holzfällers taxierten, nach Anzeichen von Schwäche suchten und überlegten, wie sie ihn am besten töten konnten; jeder Mann, dem sie begegneten, wurde von ihnen unter diesen Gesichtspunkten eingeschätzt. Auf diese Weise bereiteten sich die Sharum darauf vor, ausnahmslos gegen jedermann zu kämpfen - sei es ein Feind, ein Bruder, der eigene Vater oder ein Freund. Jeder Einzelne seiner Krieger wäre ganz versessen darauf, seine Kräfte gegen die des Hünen aus dem Norden zu messen. Der Sharum , der ihn besiegte, würde viel Ruhm und Ehre erringen.
Erst nachdem die Krieger Gared, von dem eindeutig die größte Bedrohung ausging, begutachtet hatten, nahmen sie Wonda wahr; einige Sharum sperrten verblüfft Mund und Augen auf, als sie erkannten, dass es sich um eine Frau handelte.
Sie hatten keinen Boten vorausgeschickt, um ihre Ankunft zu melden, doch als sie in den Hof von Jardirs Palast einbogen, warteten
bereits Inevera und die Damaji’ting auf sie. Inevera ruhte auf einer mit Kissen gepolsterten Sänfte, die von muskulösen chin -Sklaven, die bis auf Bidos und Westen nackt waren, getragen wurde. Sie war so skandalös gekleidet wie immer, und sogar die Nordländer schnappten nach Luft und erröteten, als die Sklaven die Sänfte absetzten und sie sich von den Kissen erhob. Mit aufreizend wiegenden Hüften näherte sie sich Jardir und streckte die Hände nach ihm aus.
»Wer ist das?«, fragte Leesha.
»Meine Hauptfrau, Damajah Inevera«, erklärte Jardir. »Die anderen sind meine Nebenfrauen.«
Leesha sah ihn entgeistert an, und nachdem sie sich von ihrer ersten Verblüffung erholt hatte, verwandelte sich ihr Gesicht in eine Sturmwolke, so wie Abban es prophezeit hatte.
»Du bist bereits verheiratet?!«
Neugierig musterte Jardir sie. Das hätte sie sich doch denken können, auch wenn sie zur Eifersucht neigte. »Selbstverständlich. Ich bin Shar’Dama Ka .«
Leesha öffnete den Mund zu einer
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