Das Flüstern der Nacht
Fleischspieß, aber er wurde ihm vor der Nase weggeschnappt. Er blickte auf, um zu sehen, wer von den Männern sich so schlecht benahm, und begegnete Hasiks starrem Blick.
»Letzte Nacht war das Glück auf deiner Seite, du Ratte!«, zischte Hasik. »Bete heute zu Everam, denn man braucht mehr als nur Glück, um eine Nacht im Labyrinth zu überleben.«
Zusammen mit den anderen Männern begab sich Jardir in den Sharik Hora , um vor dem nächtlichen Kampf den Segen der Damaji
zu empfangen. Noch nie zuvor hatte er den Tempel aus den Gebeinen der Helden betreten, und das Bild, das sich ihm darbot, übertraf noch seine wildesten Fantasien.
Alles im Inneren des Sharik Hora bestand aus den gebleichten und mit Lack überzogenen Knochen der dal’Sharum , die im alagai’sharak gefallen waren. Die zwölf Stühle der Damaji auf dem großen Altar standen auf Wadenbeinen, die wiederum auf den Füßen der Krieger ruhten. Die Armstützen hatte einst im Kampf gegen die Dämonen Speer und Schild gehalten. Glänzend polierte Rippen, hinter denen die Herzen von Helden geschlagen hatten, bildeten die Sitze. Die Rückenlehnen hatte man aus Wirbelsäulen geformt, welche einst zu Männern gehörten, die aufrecht stehend der Nacht trotzten. Die Kopfstützen setzten sich zusammen aus Schädeln von Kriegern, die nun im Himmel an Everams Seite saßen. Und diese zwölf Stühle umringten den Thron des Andrah , den man aus den Schädeln der kai’Sharum gebaut hatte, den Hauptmännern des alagai’sharak .
Hunderte von Schädeln und Wirbelsäulen waren in den riesigen Kronleuchtern verarbeitet. Aus Knochen bestanden die etlichen Hundert Bänke, auf denen die Andächtigen beteten. Der Altar. Die Kelche. Die Wände. Die gewaltige Deckenkuppel. Unzählige Krieger hatten diesen Tempel mit ihrem Leben geschützt, und mit ihren Knochen hatten sie ihn erbaut.
Das wuchtige Mittelschiff war kreisrund, und in den Wänden hatte man hundert schmale Nischen ausgespart, die vollständige Skelette auf beinernen Sockeln beherbergten. Das waren die Sharum Ka , die Ersten Krieger der Stadt.
Unter den Augen der dama befehligten die kai’Sharum die Krieger ihres jeweiligen Stammes, doch nach Sonnenuntergang übernahm der vom Andrah ernannte Sharum Ka das Kommando über die kai’Sharum . Der derzeitige Sharum Ka gehörte zum Stamm der Kaji, wie Jardir - ein Umstand, der den Jungen mit großem Stolz erfüllte.
Jardirs Hände zitterten, als er die beeindruckende Umgebung in sich aufnahm. Der gesamte Tempel war durchdrungen von Ruhm und Ehre. Sein Vater, der bei einem Überfall der Majah ums Leben kam und nicht im alagai’sharak , war hier nicht verewigt, aber Jardir träumte davon, dass eines Tages seine eigenen Gebeine an diesem geweihten Ort lägen, seinem Vater Ehre brächten und seinen, Jardirs, Opfermut unvergessen machten. Es gab keine größere Ehre, als sich mit denen zu vereinen - in dieser wie in der nächsten Welt -, die vor ihm den Heldentod fanden, und auch mit den künftigen Kriegern, die vielleicht erst in Hunderten von Jahren geboren werden sollten, deren Leben noch gar nicht begonnen hatte.
Die Sharum nahmen Haltung an, als die Damaji um Everams Segen für die kommende Schlacht baten, und auch Kaji, den Ersten Erlöser, um Hilfe anflehten.
»Kaji«, riefen sie, »Speer des Everam, Shar’Dama Ka , der die Welt einte und uns im Ersten Zeitalter von den alagai befreite, sieh herab auf diese tapferen Krieger, die in die Nacht hinausgehen, um die ewige Fehde weiterzuführen und die gai auf Ala bekämpfen, während Everam Nie im Himmel entgegentritt. Verleihe ihnen Mut und Kraft, auf dass sie der Nacht die Stirn bieten und bis zur Morgendämmerung standhalten.«
Der mit Siegeln ausgestattete Schild und der schwere Speer waren die kleinsten und leichtesten Waffen, die Qeran auftreiben konnte, dennoch kam Jardir sich mit ihnen winzig vor. Er war zwölf, und der jüngste der versammelten Krieger war fünf Jahre älter als er. Er tat so, als sei nichts dabei, als er hinging und sich zu ihnen stellte, aber selbst der schmächtigste überragte ihn noch.
»In ihrer ersten Nacht im Labyrinth werden die nie’Sharum an einen anderen Krieger festgebunden«, erklärte Qeran, »damit ihr
Mut sie nicht beim ersten Angriff der alagai verlässt. Dieser Augenblick stellt selbst den unerschrockensten Krieger auf die Probe. Der dir zugeteilte Krieger wird dein ajin’pal sein, dein Blutsbruder. Du musst jedes seiner Kommandos befolgen und bist bis zum Tod
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