Das Flüstern der Schatten
Hausmeister zusammen, holte den Schlüssel und fuhr mit ihnen in den fünften Stock.
Nach einem weiteren erfolglosen Klingeln schloss der Hausmeister die Tür auf. Mit einer Kopfbewegung deutete David an, dass sie jetzt allein sein wollten. Widerwillig fuhr der Mann zurück in den Keller.
»Anyi?«, rief Paul zaghaft.
Keine Antwort.
»Anyi«, wiederholte er lauter.
Stille.
David betrat als Erster vorsichtig die Wohnung. Die Vorhänge im Wohnzimmer waren zugezogen, es dauerte einen Moment, bis sich ihre Augen an das Halbdunkel gewöhnten. Sie horchten und zuckten zusammen. Beide hatten das Gefühl, aus dem Schlafzimmer ein Geräusch zu vernehmen.
»Hallo, ist jemand zu Hause«, rief David, wobei seine Stimme zögerlicher klang, als es für einen Kommissar gut war, dachte er.
Keine Antwort.
Sie blickten sich im Wohnzimmer um. Auf dem Tisch standen noch Pauls Wasserglas und die Plastikblumen, daneben lag ein Haufen Zeitschriften.
»Anyi«, sagte Paul noch einmal laut. Aber er rechnete nicht mehr mit einer Antwort.
David schüttelte den Kopf und ging Richtung Schlafzimmer. Die Tür war angelehnt, er blieb noch einmal stehen, hielt die Luft an, horchte, ob vielleicht das leise Schnaufen eines menschlichen Atmens aus dem Raum drang, und öffnete langsam die Tür.
Das Bett war übersät mit Schuhen, Blusen, Unterwäsche, Kleidern und Röcken, die Schranktüren standen offen, auf der einen Seite stapelten sich die Sachen eines Mannes, die Regale auf der anderen Seite waren fast leer.
»Sie ist weg«, flüsterte Paul, der David gefolgt war, wie zu sich selbst.
»Und zwar nicht um Besorgungen zu machen«, meinte der Kommissar.
Sie durchsuchten die Wohnung, ohne etwas Verdächtiges zu finden.
»Was machen wir jetzt?«, fragte Paul.
»Keine Ahnung«, antwortete David und ließ sich erschöpft auf das Sofa fallen. »Sag mal, Paul, was heißt eigentlich ›I am so sorry‹ genau?«
»Entschuldigung. Es tut mir leid. Warum fragst du?«
»Richard Owen hat das bei der Identifizierung seines toten Sohnes gestammelt. Könnte das eine Bedeutung haben?«
Paul überlegte. »Ich glaube nicht. Möglicherweise tat es ihm leid, dass sie überhaupt nach China gegangen sind, dass er Michael in dieses Abenteuer geschickt hat.«
David lehnte sich zurück, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und starrte an die Decke. Nach einer Weile fragte er: »Was hältst du davon, wenn du dich noch einmal mit Elizabeth Owen triffst?«
Paul ging nachdenklich im Wohnzimmer auf und ab. »Von mir aus gern«, sagte er schließlich, »aber ich fürchte, sie wird uns nicht weiterhelfen können. Erinnere dich, wie wenig sie wusste, als ich sie gestern anrief.«
»Das stimmt. Aber nun haben wir zumindest zwei Namen, vielleicht kann sie mit denen etwas anfangen. Außerdem möchte ich wissen, worüber sich Vater und Sohn so heftig gestritten haben. Das zumindest sollte sie uns sagen können.«
Elizabeth Owen ging schon nach dem zweiten Klingelton ans Telefon, als wenn sie auf seinen Anruf gewartet hätte. Sie lag im Hotel und ruhte sich aus, ihr Mann war im amerikanischen Konsulat und kümmerte sich um Formalitäten. Sie war jederzeit bereit, mit Paul zu reden. Sie verabredeten sich für zwei Stunden später in der Bar des Inter-Continentals.
Auf dem Weg zurück nach Hongkong berichtete Paul noch einmal in allen Einzelheiten von dem Gespräch mit Anyi.
Mitten im Satz klingelte Davids Handy, er schaute auf das Display und erschrak. Es war Lo, der Leiter der Mordkommision.
»Zhang, wie geht es dir?«
»Danke, leider noch nicht besser. Eher im Gegenteil.«
»Wo steckst du? Es ist so laut im Hintergrund. Das ist ja hoffentlich nicht der Puff unter dir, der so einen Krach macht.«
»Nein, ich bin auf der Fähre nach Hongkong«, antwortete David, dem vor Aufregung keine Ausflucht einfiel.
»Was willst du da denn?«, fragte Lo erstaunt und in einem Ton, der nicht auf viel Mitgefühl hoffen ließ.
»Ich... ich bin auf dem Weg zu einem Spezialisten. Mein Knie ist ziemlich angeschwollen und tut verdammt weh. Mein Freund Paul hat mir kurzfristig einen Termin bei einem Orthopäden, einem Spezialisten, besorgt.«
Lo schwieg einige Sekunden, als müsse er sich entscheiden, ob dies ein Grund für weiteres Misstrauen war. »Ich rufe nur an, um dir zu sagen, dass der Prozess gegen den Owen-Mörder vorgezogen wurde. Die Amerikaner haben darauf gedrängt. Er findet schon übermorgen statt. Da wir ein Geständnis haben, wird er nicht länger als einen
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