Das Flüstern der Schatten
Tag dauern. Ich dachte, das wird dich interessieren.«
»Natürlich.«
»Vielleicht kannst du es über deinen Freund schon einmal den Eltern mitteilen. Wir benachrichtigen sie zwar auch auf dem offiziellen Weg, aber das dauert ein bisschen.«
»Mach ich.«
Was wollte sein Vorgesetzter von ihm? Zweifelte er daran, dass er der offiziellen Linie folgte? Oder wollte er wirklich nur, dass er die Owens verständigte?
»Es wird eine Erleichterung für die Eltern sein, was meinst du?«
»Mit Sicherheit, Lo, mit Sicherheit.« Sein Chef war plötzlich auf eine Weise redselig, die David unangenehm berührte. Er überlegte, wie sie den Arbeiter wohl dazu bekommen hatten, ein erfundenes Geständnis zu unterschreiben. Womit mochten sie ihm gedroht haben? Der Verhaftung seiner Frau und der Unterbringung des Kindes in einem Waisenhaus? Der Verhaftung seiner Verwandten in Sichuan, ihrer Vertreibung aus dem Dorf? Wahrscheinlich hatten sie ihm gleichzeitig noch versprochen, auf die Todesstrafe zu verzichten und sich während der Haftzeit großzügig um seine Familie zu kümmern. Das wäre für den armen Kerl ein verlockendes Angebot gewesen; falls er auch nur die geringste Erfahrung mit Polizei und Gerichten hatte, wusste er, dass es für ihn keine Alternative gab.
»Für die meisten Hinterbliebenen ist der Fall ja erst abgeschlossen, wenn der Täter nicht nur ermittelt, sondern auch verurteilt und das Urteil vollstreckt ist, stimmt’s?«
»Ja, da hast du Recht«, antwortete David gehorsam.
»Wann sehe ich dich wieder?«
»Ich hoffe, in ein paar Tagen.« Er hörte Los schweren Raucheratem am anderen Ende, er schien über etwas nachzudenken.
»Zhang, denk daran: Wer Rache sucht, sollte nicht vergessen, zwei Gräber zu schaufeln.«
David überlegte, ob er eine Weisheit kannte, die den Unterschied von Recht und Rache erklärte, aber ihm fiel keine ein. »Ich weiß. Wie heißt es so schön: Von allen sechsunddreißig Möglichkeiten ist die Flucht immer die beste.«
»Wer hat das gesagt?«
»Ich glaube, Laotse.«
»Kann sein. Vergiss es nicht«, sagte Lo und legte auf. Wie kam er darauf, dass es ihm um Rache gehen könnte? Wusste er etwas von Tangs und Davids Vergangenheit? Ausgeschlossen. Wahrscheinlich konnte es sich für ihn in diesem Fall nur um irgendeine Rache handeln, warum sonst sollte ein Polizist einen Mörder suchen, wenn es bereits ein Geständnis gab.
Paul hatte das Gespräch aufmerksam verfolgt.
»Sag mal, weiß Mei eigentlich, wo du bist und was du machst?«, fragte er plötzlich.
»Nicht genau«, antwortete David ausweichend.
»Was heißt das?«
»Ich habe ihr das Gleiche gesagt wie Lo: Ich bin bei dir, weil du mir einen Termin bei einem Kniespezialisten besorgt hast.«
»Warum sagst du ihr nicht, was du wirklich machst?«
David zögerte mit seiner Antwort. Ja, warum nicht? Weil jede Wahrheit ihre Zeit hat und er den richtigen Zeitpunkt für diese Wahrheit längst verpasst hatte? Weil er seine Frau unendlich liebte und er ihr diesen Schmerz nicht zufügen wollte? Weil sie als Mitwisserin in Gefahr wäre? Weil er ein erbärmlicher Feigling war?
»Ich habe ihr nichts gesagt, weil sie sich nur Sorgen machen würde«, antwortete David mit matter Stimme.
»Und weil sie versucht hätte, dich abzuhalten.«
Natürlich hätte sie das, dachte David. Mit allen Mitteln. Statt zu antworten, nickte er nur.
»Das ist...«, Paul suchte nach den passenden Worten, er wollte protestieren, ihm aber dabei keine zu heftigen Vorwürfe machen.
»Ich weiß, was du sagen willst«, unterbrach ihn David, »und du hast Recht. Aber es ging nicht anders. Hätte ich ihr etwas gesagt, säße ich jetzt nicht hier. Ich hatte keine Wahl.«
Sie schwiegen und schauten eine Weile auf das Meer und die Containerschiffe, die auf Reede lagen und von kleinen Schuten entladen wurden.
»Was soll ich Frau Owen erzählen?«, fragte Paul.
»Alles, was wir wissen. Dass der Mörder ihres Sohnes noch frei herumläuft. Dass ein Unschuldiger in Haft sitzt. Dass der übermorgen zum Tode verurteilt und bald darauf hingerichtet wird. Wenn Elizabeth Owen uns jetzt nicht hilft, hat sie oder ihr Mann etwas mit dem Mord zu tun.«
Paul starrte ihn ungläubig an, als wolle er prüfen, ob David das ernst meinte.
»Was machst du für ein Gesicht? Hältst du das für ausgeschlossen?«
»Ich weiß es nicht, ich möchte mir so etwas gar nicht vorstellen«, antwortete Paul nach langem Schweigen.
Als er knapp zwei Stunden später die Bar des Inter-Conti
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