Das Flüstern der Schatten
und brachte damit die Stimmen der anderen Gäste um sie herum für einen Moment zum Schweigen. Das war zu laut gewesen. Viel zu laut. Sie waren ja nicht in einer Sportsbar, zugegeben. Aber musste man sie deshalb gleich so anschauen, als wäre sie die letzte amerikanische Schlampe, die nicht wusste, wie man sich in der Lounge eines Fünf-Sterne-Hotels benimmt?
Sie musste aufpassen. Die Martinis. Einer zu viel, und aus Freunden erwuchsen ihr Feinde.
Elizabeth Owen stand auf und begrüßte Paul mit der Andeutung einer Umarmung und zweier Wangenküsschen.
Zum Glück bestellte er auch einen Martini. Sie hatte schon befürchtet, er würde es bei einem Mineralwasser oder Tomatensaft belassen. Nichts war fader, als sich allein zu betrinken.
»Ich muss etwas mit Ihnen besprechen«, sagte Paul. Seine Stimme war fast so melancholisch wie seine Augen. »Es gibt ein paar Neuigkeiten.«
»Ich weiß: Der Prozess gegen Michaels Mörder wurde vorgezogen. Er beginnt schon übermorgen«, sagte sie und freute sich über sein überraschtes Gesicht.
»Woher wissen Sie das?«
»Von Herrn Tang. Er hat heute Mittag angerufen.«
»Hat er Ihnen auch gesagt, dass der Mann, der vor Gericht stehen wird, nicht der Mörder ist?«
Sie musste ihn falsch verstanden haben. »Können Sie das bitte noch einmal wiederholen.«
»Der Mann, der am Freitag zum Tode verurteilt wird, ist unschuldig.«
»Unschuldig?«, wiederholte sie, als spreche er eine Fremdsprache, derer sie nicht mächtig war. »Woher wissen Sie das?«
»Mein Freund David Zhang und ich haben ein wenig auf eigene Faust recherchiert. Er hat ein Alibi, an dem es keine Zweifel gibt.«
Was machte dieser verdammte Barkeeper? Wo blieb der zweite Martini? Die Wirkung des Alkohols hatte mit einem Schlag aufgehört, und nüchtern war dieser Moment kaum zu ertragen.
»Ich dachte, er hat ein Geständnis unterschrieben.«
»Hat er auch. Aber dazu ist er wahrscheinlich gezwungen worden. Das ist nichts Außergewöhnliches, passiert in China jeden Tag.«
»Das meinen Sie nicht ernst?«
»Doch.«
»Ich versteh das nicht. Ich meine, wenn er seine Unschuld beweisen kann, warum ist er noch im Gefängnis?« Es mochte die naive Frage einer alternden Amerikanerin aus Milwaukee, Wisconsin, sein, aber etwas anderes fiel ihr im Augenblick nicht ein.
»Wir glauben, weil der wahre Täter geschützt werden soll.« Paul schwieg für einen Moment, offenbar wollte er ihr Zeit geben, die Neuigkeiten zu verarbeiten, aber für sie machte es keinen Sinn, da konnte er schweigen, bis die Sonne wieder aufging. Sie blickte ihn nur fragend an.
»Ihr Sohn muss in irgendetwas verwickelt gewesen sein und sich mächtige Feinde gemacht haben. Wissen Sie, wer oder was das gewesen sein könnte?«
Elizabeth Owen konnte sich einfach nicht konzentrieren. Michael soll Feinde gehabt haben? Ihr Baby, ihr kleiner Michael? Ausgeschlossen. In Amerika kannte er nur Freunde. In Amerika hatten sie ihn von der High School bis zum College den sanften Hünen genannt, der sich mit jedem vertrug.
»Nein, mein Sohn hatte keine Feinde.«
Endlich brachte der Kellner die zwei Martinis. Sie nahm das Holzstäbchen mit der grünen Olive heraus und trank einen kräftigen Schluck, ohne Pauls erhobenes Glas zu bemerken.
»Oder jemand, mit dem er sich heftig gestritten hat, der sich bedroht gefühlt haben könnte?«
Sie schüttelte den Kopf. »Höchstens sein Vater«, entfuhr es ihr mit einem kurzen, fast hysterischen Lachen, an dem sie sich sogleich verschluckte.
»Was haben Sie da gesagt?«
»Das war nicht ernst gemeint«, antwortete sie, als sie sich beruhigt hatte. »Aber die beiden stritten sich halt ständig.«
»Worüber?«
»Über alles. Mein Mann war furchtbar eifersüchtig auf unseren Sohn, schon immer. Ich glaube, vom Tag seiner Geburt an. Fragen Sie mich nicht, warum. Ich habe keine Ahnung. Wie kann ein erwachsener Mann eifersüchtig auf einen Säugling sein? Aber egal, wie heftig sie stritten, Richard hat Michael natürlich geliebt, schließlich war er sein Sohn. Er hat ihm nichts Böses gewollt, da bin ich mir sicher.« Alles andere, dachte Elizabeth Owen, ging diesen Fremden nichts an. Die Tränen. Die Drohungen. Die durchwachten Nächte, in denen sie das Gebrüll ihrer beiden Männer durch das Haus hallen hörte.
»Haben sie sich auch über das Geschäft gestritten?«
»Ich sagte ja: über alles. Manchmal habe ich versucht zu vermitteln, aber bei den Auseinandersetzungen um die Firma und unsere China-Investitionen habe
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