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Das Flüstern der Schatten

Das Flüstern der Schatten

Titel: Das Flüstern der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan-Philipp Sendker
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betrat, wartete Elizabeth Owen bereits auf ihn.

XXII
    Elizabeth Owen war zunächst sehr skeptisch gewesen. Was konnte dieser lange, hagere chinesische Barkeeper mit seinem ausdruckslosen Gesicht von einem amerikanischen Cocktail verstehen? Wahrscheinlich trank er sie selbst gar nicht. Aber dieser trockene Martini war gut, sehr gut sogar, besser noch als im Drake in Chicago, wo sie ihn sonst, am Ende einer langen Einkaufstour auf der Michigan Avenue, einzunehmen pflegte. Dort war er manchmal zu warm und etwas wässerig, dieser hier war herrlich kalt und stark, und seine Wirkung ließ nicht lange auf sich warten. Bereits nach dem zweiten Schluck spürte Elizabeth, wie ein wohlig warmer Schauer durch ihren ganzen Körper lief. Viel besser als die Beruhigungsmittel, die sie seit Tagen nahm. Die machten sie entsetzlich müde und träge, jede Bewegung fiel ihr schwer, zuweilen selbst das Sprechen. Was dachten sich die Ärzte nur dabei? Wenn Richard nicht so hartnäckig gewesen wäre, hätte sie die Medikamente schon gestern abgesetzt. Nun hatte sie ihm zuliebe heute Morgen so getan, als hätte sie die Tabletten genommen, und sie anschließend in der Toilette gespült.
    Der Martini wirkte Wunder und gab ihr das Gefühl einer unangemessenen und nichtsdestotrotz wunderbaren Leichtigkeit, er beruhigte ihre Seele, ohne sie zu betäuben, im Gegenteil, sie fühlte sich nach dem ersten halben Glas hellwach. Jetzt beeindruckte sie sogar der Blick aus den großen Fenstern auf die Skyline Hongkongs, deren bunte Lichter sich im Hafenwasser spiegelten und die, wenn sie die Augen ein wenig zusammenkniff, aussahen wie ein nicht enden wollendes Feuerwerk. Ein faszinierender Anblick, sie gab es zu, auch wenn sie die Stadt ansonsten nicht ausstehen konnte. Genauso wenig wie Shenzhen, Shanghai und Peking und wo sie überall in den vergangenen Jahren gewesen sind. Sie verstand nicht, was ihren Sohn an diesem Land so sehr begeistert hatte. Die Magie, die jahrtausendealte Geschichte und angebliche Klugheit der Menschen, ihr Optimismus, ihre Kreativität, all diese Eigenschafen, von denen er so ausdauernd und leidenschaftlich schwärmte und die der amerikanischen Mentalität so ähnlich sein sollten, konnte Elizabeth Owen nirgends entdecken. Sie sah überall Dreck und Müll. Sie sah Baustellen. Sie sah viel zu viele Menschen, die, wo immer sie mit ihnen in Berührung kam, drängelten und schubsten, beim Essen rülpsten und furzten, aus dem Mund stanken und es wagten, sie trotz ihrer schlechten Zähne auch noch anzulächeln. Sie hörte eine Sprache, in der ihr kein Laut vertraut war. Für sie klang Chinesisch wie eine Aneinanderreihung von sonderbaren, oft unheimlichen Geräuschen. Mal verständigten sich die Menschen schnurrend, flötend, fast singend, um gleich darauf in einen harten, barschen Ton zu verfallen, in dem sie zischten, fauchten und brüllten und jeder Satz wie eine gefährliche Drohung oder ein Befehl anmutete, der keine Widerrede duldete. Es tat ihr in den Ohren weh.
    Irgendwann hatte sie beschlossen, die Asien-Reisen geduldig zu durchleiden, wenn sie der Preis dafür waren, ihren Sohn regelmäßig zu sehen. Das Land war ihr egal, solange die China-Geschäfte dafür sorgten, dass die Firma florierte, genug Geld auf den Konten lag und sie nicht, wie Richard einst befürchtet hatte, bankrott gingen und ihr Anwesen verkaufen mussten.
    Jetzt hatte Michael seine Begeisterung, sein Vertrauen mit dem Leben bezahlt, erschlagen von einem völlig unbedeutenden Hilfsarbeiter, der wahrscheinlich nicht einmal lesen und schreiben konnte. Wer sollte das je verstehen?
    Sie brauchte dringend einen zweiten Martini, bevor die Wirkung des ersten nachließ, und winkte einen Kellner heran.
    Von Weitem sah sie Paul Leibovitz die Bar betreten und sich nach ihr umschauen. Kein unattraktiver Mann, das hatte sie schon gedacht, als sie ihn im Café auf dem Peak sitzen sah. Markantes Gesicht, die lockigen weißen Haare standen ihm gut, der Blick ein wenig zu schwermütig, auf der anderen Seite verlieh ihm diese melancholische Ausstrahlung eine gewisse Aura, etwas Geheimnisvolles, was viele Frauen interessant fanden. Wäre sie zwanzig Jahre jünger gewesen, wäre sie selbst einer Affäre gegenüber nicht abgeneigt. Jetzt war sie zu alt; bestimmt hatte er eine junge chinesische Geliebte, eine, deren Haut glatt und faltenlos war, auch ohne chirurgische Hilfe.
    Was mochte er von ihr wollen?
    Sie hob den rechten Arm und winkte ihm zu.
    »Paul, hier«, rief sie

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