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Das Flüstern der Schatten

Das Flüstern der Schatten

Titel: Das Flüstern der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan-Philipp Sendker
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ich mich herausgehalten. Geschäft ist in unserer Familie Männersache, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
    »Sagt Ihnen der Name Wang Ming etwas?«
    »Nein, nie gehört.«
    »Lotus Metal?«
    »Nein.«
    »Wussten Sie, dass Ihr Sohn häufig nach Shanghai gefahren ist?«
    »Ist er das?«
    »Können Sie mir erklären, warum?«, setzte Paul nach.
    »Nein, keine Ahnung. Mein Mann weiß vielleicht mehr, er ist auf dem Weg ins Hotel.«
    »Wussten Sie, dass Michael eine Wohnung in Shenzhen hat?«
    Wussten Sie, wussten Sie... Er sollte endlich aufhören mit diesem Wussten Sie. NEIN. Nein, sie wusste nicht. Am liebsten hätte sie es aus sich herausgebrüllt, so laut, dass den asiatischen Lackaffen in dieser Lounge die Cocktail- und Champagnergläser in ihren Händen zerspringen würden. Was erzählte er ihr da? Michael besaß eine Zweitwohnung in China. Er hatte eine chinesische Geliebte. Mit der wollte er nach New York ziehen. Von welchem Michael redete dieser Leibovitz?
    War es möglich, dass sie ihren Sohn so wenig kannte? Nach fast dreißig Jahren? Warum hatte er all das vor ihr verheimlicht? Warum vertraute er seiner Mutter nicht? Hatte er Angst, sie würde es sogleich Richard weitersagen? Oder sich nach dem zweiten Drink, redselig geworden vom Alkohol, verplappern? Niemals hätte sie das getan, sie hielt doch zu ihm, immer schon, in all den Jahren und endlosen Kämpfen zwischen Vater und Sohn, sie war auf seiner Seite, auch wenn sie das nicht bei jedem Streit zeigen konnte. Sie hätte ihn nicht verraten. Dieses Mal nicht.
    Sie leerte das Glas mit einem Zug und bestellte gleich noch einen Martini für sich und einen für Paul Leibovitz, obgleich der abwehrend den Kopf schüttelte. Egal, er wird ihn nicht stehen lassen.
    Wie weit ist Richard gegangen? Worüber hatten er und Michael sich in der vergangenen Woche wieder in die Haare bekommen? Warum mussten sie Hals über Kopf nach Hongkong fliegen, und warum wollte Michael, kaum waren sie angekommen, für zwei Tage nach Shenzhen? Richard wird in wenigen Minuten zurück im Hotel sein, sobald Paul Leibovitz gegangen ist, wird er ihr Rede und Antwort stehen müssen.
    »Ich erwarte meinen Mann jeden Augenblick. Er wird manche Ihrer Fragen bestimmt beantworten können«, sagte sie und sah im selben Augenblick Richard an der Rezeption stehen. Wie ein Fremder sah er aus mit seinem hochroten Kopf, den nassen, zerzausten Haaren und dem hellblauen Oberhemd, übersät mit dunklen, feuchten Flecken. Sie rief zwei Mal extra laut seinen Namen, die anderen sollten ruhig merken, dass sie sich von ihren Blicken nicht einschüchtern ließ.
    Richard Owen setzte sich widerwillig zu ihnen, eigentlich wollte er endlich duschen, und an einem Gespräch mit Paul lag ihm überhaupt nichts, das sah sie ihrem Mann an.
    »Herr Leibovitz, würden Sie für meinen Mann bitte noch einmal wiederholen, was Sie mir eben erzählt haben.« Sie wollte sehen, wie Richard darauf reagierte.
    Paul räusperte sich und holte tief Luft: »Ich bin gekommen, um Ihnen zu sagen, dass der Mann, der am Freitag wegen Mordes an Ihrem Sohn vor Gericht stehen wird, unschuldig ist.«
    Richard Owen tat, was er immer tat, wenn ihn eine Nachricht unangenehm überraschte, er zuckte mehrmals mit dem Kopf und öffnete den Mund wie ein Fisch, der nach Luft schnappt. Es sah aus, als könnte er seine Bewegungen nicht mehr kontrollieren.
    »Herr Tang hat mir gesagt, der Täter habe ein Geständnis unterschrieben.«
    »Das ist richtig. Aber das war ein erzwungenes Geständnis.«
    Elizabeth Owen sah, wie es in ihrem Mann gärte. Sie sah, wie er kämpfte, wie er sich bemühte, nicht die Beherrschung zu verlieren. Und sie sah genau, wie, nach einigen Sekunden, die ihm endlos vorgekommen sein mussten, er wieder ruhiger wurde, die Gesichtszüge sich etwas entspannten, als wisse er nach einem Moment der Orientierungslosigkeit nun genau, was er zu tun habe.
    »Es tut mir leid, aber ich kann Ihnen nicht folgen. Die Polizei in Shenzhen nimmt nach einem Großeinsatz einen Verdächtigen fest, der gesteht die Tat, soweit ich weiß, gibt es sogar Augenzeugen, die den Streit mit meinem Sohn beobachtet haben, und Sie behaupten, das Geständnis sei nicht echt? Der Mann kann dafür zum Tode verurteilt werden. Warum sollte er ein falsches Geständnis unterschreiben?«
    »Wahrscheinlich ist er gezwungen worden.«
    »Herr Leibovitz, ich bitte Sie. China mag ja noch keine Demokratie sein, aber es ist auch kein Polizeistaat mehr, wo man sich Geständnisse so

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