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Das Flüstern der Schatten

Das Flüstern der Schatten

Titel: Das Flüstern der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan-Philipp Sendker
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»Genau darauf möchte ich hinaus: An wen sollten Sie die Wahrheit zurückgeben? Wer nimmt unbequeme, quälende, zu komplizierte Wahrheiten zurück? Niemand. Es handelt sich ja nicht um einen Anzug, bei dem Sie zu Hause feststellen, dass er Ihnen nicht passt und den Sie dann umtauschen können. Ist eine Wahrheit erst einmal ausgesprochen, reichen alle Waffen dieser Welt nicht aus, um sie wieder einzufangen und wegzusperren oder gar auszulöschen. Für eine gewisse Zeit vielleicht, aber nicht auf Dauer. Sie kennen uns Chinesen ja ein wenig und verstehen, was ich meine: Wir denken in langen Zeiträumen. Ist eine Wahrheit erst einmal ausgesprochen, gibt es kein Zurück. Stimmen Sie mir zu?«
    Paul nickte. Es war eine rhetorische Frage, und dies war nicht der Moment, Tang zu widersprechen.
    »Das bedeutet, dass wir sehr, sehr vorsichtig sein müssen und die Risiken sehr sorgfältig bedenken sollten, bevor wir uns auf die Suche machen, oder? Die Risiken für uns und für mögliche Mitwisser. Denn die Wahrheit kann viel bewirken: Sie kann heilen. Sie kann trösten. Sie kann uns beflügeln, ja uns fast übermenschliche Kräfte verleihen. Aber sie kann auch genau das Gegenteil ausrichten: Sie kann Ehen zerstören. Freunde für immer entzweien. Regierungen stürzen. Kriege auslösen. Mit anderen Worten: Sie hat ihren Preis. Können Sie mir folgen, Herr Leibovitz?«
    Paul wagte kaum, sich zu rühren, und Tang wartete gar nicht erst auf eine Reaktion.
    »Das Wissen um diese Wahrheit kann unter Umständen einem Todesurteil gleichkommen, Herr Leibovitz. Sind Sie bereit, diesen Preis in Kauf zu nehmen?«

XXVIII
    »Du lügst. Du mieser, kleiner, dreckiger Verräter. Sag endlich die Wahrheit, hörst du? Wir wollen die Wahrheit wissen! Die Wahrheit!«
    Sie hatten ihm die Hände auf den Rücken gefesselt und ihn gezwungen, vor ihnen auf die Knie zu fallen. Er war umringt von einem halben Dutzend junger Männer und Frauen, die leicht hätten seine Kinder sein können und die ihn abwechselnd anbrüllten, bespuckten und mit den Füßen traten. Er kauerte auf dem vorderen Rand einer Bühne, den Kopf gesenkt, um seinen Hals hing eine schwere Holztafel, auf die jemand mit schwarzer Farbe »Verräter« geschrieben hatte. Er blutete aus einer Wunde auf der Stirn, zitterte am ganzen Körper und gab keinen Ton von sich. Mehrere tausend Menschen waren an diesem heißen Sommertag in Chengdu auf den Platz in der Altstadt geströmt und verfolgten aufgebracht das Spektakel dieses öffentlichen Tribunals. Ihre Rufe nach Strafe für den Verräter und Konterrevolutionär feuerten die Rotgardisten auf dem Podium immer weiter an.
    »Die Wahrheit! Die Wahrheit! Wir wollen die Wahrheit wissen!« Die kreischende Stimme des jungen Mannes überschlug sich vor Wut. Er spuckte dem vor ihm Knienden noch einmal ins Gesicht und trat ihm von hinten in den Rücken, sodass er das Gleichgewicht verlor, nach vorn kippte und sein Oberkörper mit einem dumpfen Schlag auf die Bretter prallte.
    Der 14-jährige Victor Tang stand in einer kleinen Seitengasse, die auf den Platz mündete, keine dreißig Meter von der Bühne entfernt und konnte seinen Blick nicht abwenden. Er war gelähmt vor Angst. Dieser große und kräftige Mann, der dort reglos lag, war sein stolzer, starker, sein geliebter Vater. Schwach wie ein Greis. Hilflos wie ein Käfer, der auf den Rücken gefallen war.
    Er konnte nicht glauben, was er sah. Wenn sein Vater im Namen des Großen Vorsitzenden verhaftet und öffentlich angeklagt werden konnte, dann war alles möglich. Wenn es nicht reichte, als Jugendlicher seine Familie verlassen und sich den Kommunisten angeschlossen zu haben, wenn es nicht genügte, im Bürgerkrieg für Mao gekämpft und anschließend jede von dessen politischen Kampagnen unterstützt zu haben, dann, so dachte Victor, gab es nichts auf dieser Welt, worauf man sich verlassen konnte. Dann war alles möglich, und in Wahrheit reagierte die Willkür, mochte sie sich auch hinter einem geregelten Alltag verstecken. Dann war jedes Gefühl der Sicherheit eine Illusion. Das Böse konnte jederzeit und ohne Vorwarnung von einer Sekunde zur anderen die Macht übernehmen, im ganzen Land und im Leben eines jeden Einzelnen.
    Der junge Tang lehnte an einer Hauswand, schloss die Augen und spürte, wie ihm die Tränen über das Gesicht rannen. Ihm war kalt, obgleich die Sonne auf der Haut brannte. »Rechtsabweichler. Konterrevolutionär. Wegbereiter des Kapitalismus.« Er hörte es aus Tausenden von

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