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Das Flüstern der Schatten

Das Flüstern der Schatten

Titel: Das Flüstern der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan-Philipp Sendker
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Kehlen. Nein, wollte er ihnen entgegenschreien, es ist eine Verwechslung, ihr irrt euch, mein Vater ist kein Verräter, ganz bestimmt nicht.
    Aber wenn sie sich doch nicht täuschten? Wenn sie die Wahrheit sagten? Es war ein ungeheuerlicher Gedanke, den er am liebsten verscheucht hätte, der sich aber in Windeseile in seinem Kopf ausbreitete. Konnte er wirklich mit absoluter Sicherheit ausschließen, dass an ihren Vorwürfen etwas Wahres dran war? Natürlich nicht, so selten wie er seinen Vater sah. Wer wusste, worüber er mit den anderen Offizieren in der Kaserne diskutiert hatte, die in den vergangenen Wochen fast alle als Konterrevolutionäre verhaftet worden waren. Von ihnen werden die Rotgardisten etwas über seinen Vater erfahren haben, was ihm, Tang, entgangen war. Es musste etwas an ihren Anschuldigungen sein, schließlich handelten sie im Namen Maos. Er persönlich hatte die Roten Garden dazu aufgefordert, das Land vom Alten Denken zu befreien und dabei niemanden zu schonen, auch die älteren, angeblich so verdienten Kader nicht. Und wer wollte an den Befehlen des Großen Steuermanns zweifeln? Die Roten Garden wussten etwas, von dem sonst niemand etwas ahnte, so musste es sein, dann machte alles Sinn, was Tang in den vergangenen Stunden erlebt hatte: die Erstürmung ihrer Wohnung, die Plünderung, die Angst seiner Mutter und das Schweigen seines Vaters. Er hatte etwas zu verbergen, sie hatten beide etwas zu verbergen, warum sonst schwiegen sie. Seine Eltern hingen dem alten Denken an, das es auszumerzen galt. War der Vater nicht zu Beginn der Kulturrevolution sehr zurückhaltend in seiner Unterstützung gewesen? Hatte er nicht selbst vor wenigen Tagen noch in einem Gespräch mit der Mutter den Sinn dieser großen proletarischen Bewegung in Frage gestellt? Natürlich hatte er das. Victor hatte im Nebenzimmer gelegen, und ihm war kein Satz entgangen, obgleich sie leise, fast flüsternd gesprochen hatten. Er war aufgestanden und hatte hinter der Tür gelauscht und jedes Wort verstanden. Wie hatten sie es wagen können, auch nur den leisesten Zweifel an Maos Politik zu äußern? Was fiel ihnen ein? Tang schämte sich für seine Eltern.
    Er öffnete die Augen und drehte sich wieder um. Auf dem Podium knieten zwei Rotgardisten neben seinem Vater, einer riss ihn an den Haaren, sodass er mit einem zur Grimasse erstarrten Gesicht den Kopf hob. Verräter. Alle brüllten es, die auf der Bühne und die Männer und Frauen, die Jungen und Mädchen, die ihn umringten, und Tang stimmte mit ein. Zunächst leise, kaum hörbar, dann lauter, immer lauter, bis er es mit aller Kraft aus sich herausschrie: »Lügner! Verräter! Du mieser, kleiner, dreckiger Verräter! Sag endlich die Wahrheit!«
    Aber sein Vater schwieg, und sie schlugen und quälten ihn weiter, bis er das Bewusstsein verlor. Irgendwann zerrten sie ihn auf einen Lastwagen und fuhren davon, sperrten ihn ein. Es sollten fast zehn Jahre vergehen - in deren Verlauf seine Mutter starb -, bis Tang ihn wiedersah - und kaum erkannte. Aus dem stolzen PLA-Kommandanten war ein alter, gebrochener Mann geworden, der seine Gefangenschaft genau um zwei Jahre, zwei Monate und zwei Tage überlebte und in dieser Zeit kaum noch zusammenhängende Sätze sprach. Er verbrachte die Tage am liebsten in einem Schaukelstuhl sitzend im Halbdunkel des Schlafzimmers und ließ sich von Victor pflegen, bis eines Nachts sein Herz aufhörte zu schlagen.
    Zwei Jahre später wurde er offiziell rehabilitiert.
    Tang wurde in das Büro des Parteisekretärs bestellt, wo man ihm einen Brief aushändigte, in dem die Partei mitteilte, dass sich nach neuesten Erkenntnissen die Vorwürfe, die während der Kulturrevolution gegen den Vater erhoben wurden und zu seiner knapp zehnjährigen Gefangenschaft geführt hatten, als falsch erwiesen haben. Die Kaderakte des Verstorbenen als auch die der Familie werde dahingehend geändert. Das war alles. Keine Entschädigung. Keine Erklärung über mögliche Verantwortliche, die zur Rechenschaft gezogen werden müssten. Kein Wort der Entschuldigung, keine Spur des Bedauerns im Gesicht des Funktionärs. Der Parteisekretär hatte ihn damals angeschaut, als müsse er sich eigentlich dankbar zeigen über diese großzügige Geste. »Noch Fragen, Genosse Tang?«
     
    Tang überlegte, ob er diese Geschichte seinem Gast erzählen sollte. Vielleicht begriff Paul Leibovitz dann, dass es die Wahrheit gar nicht gab, dass die Suche nach ihr die Suche nach einer Illusion war, denn

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